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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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wird, ist Alles allein auf diese Idee bezogen. Die Wissenschaft und die Gelehrten
werden geschmäht, die Kraft des menschlichen Verstandes verachtet, die Bestrebungen
jener Zeit (t820), zur Freiheit und Einheit zu gelangen, verdammt; übrig bleibt
nichts, als der Gottesfriede, der unter den Menschen ovium soll, und der im
Gegensatz zu Paris von Berlin aus sich über die Welt verbreiten wird. Welchen
Inhalt dies "ruhige und gottselige Leben in aller Stille und Ehrbarkeit" haben
wird, wissen wir freilich nicht, da die Beschäftigungen des Bauern, Handwerkers
und Kaufmanns als eben so niedrig angesehen werden, wie die Bestrebungen der
Wissenschaft als ohnmächtig. Nur durch deu Frieden Gottes gewinnt die Wissen¬
schaft ein Ziel und einen Einheitspunkt. Die Gelehrten sollen gebenedeit sein durch
den Frieden Gottes und die Priester erkcnntnißreich. Drei Zustände des me"sah>
liehen Lebens gibt es, die Unmittelbarkeit des Friedens, von diesem gelte der Name
"Volk"; die Zeit des Zerfalls und der Sunde, in der vermöge des Gesetzes ein
Schein des Friedens herrsche: der Staat; die Zeit des wieder hergestellten, dnrch
Freiheit wiedergewonnenen Gottesfriedens: das Reich. Diese EintheilnngdcrStaats-
foruien schwebt ihm auch noch in neuester Zeit vor; er stellt sie der gewöhnlichen
in Monarchie, Aristokratie und Demokratie, deren EintheilungSprineip er als un¬
wesentlich und äußerlich bezeichnet, entgegen. Auch jetzt noch hält er daran fest,
daß der Staat des Gesetzes -- und dieser in seiner vollendetsten Form ist die
Republik -- nur für ein in Sünde verfallenes Geschlecht sich eigne. Die einzige
Aufgabe deö Fürsten und der Neichsgenvssen, worunter er die hohe Aristokratie
versteht, ist die, den Frieden zu schirme". Das gemeine Leben, die bürgerlichen
Verhältnisse der Handwerker u. s. w., ihre Noth und Armuth liegen außer dem
Bereich seiner Verpflichtungen; es ist eine thörichte Forderung, von den Fürsten
zu verlangen, daß sie dafür sorgen sollen. Zu solcher Lieblosigkeit verflüchtigt sich
die Liebe. -- Der frömmelnd aristokratische Geist, in dem "Deutschland und der
Gottcefriede" geschrieben ist, ist allerdings das Grundelement auch in Stuhr'S
späteren Schriften, hat aber viel an seiner Härte und Schärfe verloren. Nament¬
lich hat Stuhr die Ansicht ganz fallen lassen, daß der Staat sich um die irdischen
Dinge nicht zu kümmern habe. Es versteht sich von selbst, sagt er in der Schrift
gegen Gervinus (1847), daß alle Richtungen des Staatslebens, auch die verein¬
zeltste" und äußerlichsten, selbst die Interessen der einzelnen Mitglieder des Staats
in die Berathungen der Gemeindeversammlungen zu ziehen sind. Ja selbst die
Neigung zu dem friedfertig stillen gemüthlichen Leben und der Haß gegen das
freie Spiel der Kräfte scheinen insofern nachgelassen zu haben, als er die innere
Berechtigung der Freiheitsbewegungen der neuern Zeit in dem öffentlichen Hervor¬
trete" und dem Kampfe der vorhandenen Gegensätze findet. Der Zustand deö
ewigen Friedens ist ihm jetzt das Ideal; ehe aber das Ende aller Tage erreicht
ist, sollen die Gegensätze sich auskämpfen; nur so ist die Geschichte lebendig; daS
geschichtliche Dasein ist aber die wahre Bestimmung deö Menschen.


wird, ist Alles allein auf diese Idee bezogen. Die Wissenschaft und die Gelehrten
werden geschmäht, die Kraft des menschlichen Verstandes verachtet, die Bestrebungen
jener Zeit (t820), zur Freiheit und Einheit zu gelangen, verdammt; übrig bleibt
nichts, als der Gottesfriede, der unter den Menschen ovium soll, und der im
Gegensatz zu Paris von Berlin aus sich über die Welt verbreiten wird. Welchen
Inhalt dies „ruhige und gottselige Leben in aller Stille und Ehrbarkeit" haben
wird, wissen wir freilich nicht, da die Beschäftigungen des Bauern, Handwerkers
und Kaufmanns als eben so niedrig angesehen werden, wie die Bestrebungen der
Wissenschaft als ohnmächtig. Nur durch deu Frieden Gottes gewinnt die Wissen¬
schaft ein Ziel und einen Einheitspunkt. Die Gelehrten sollen gebenedeit sein durch
den Frieden Gottes und die Priester erkcnntnißreich. Drei Zustände des me»sah>
liehen Lebens gibt es, die Unmittelbarkeit des Friedens, von diesem gelte der Name
„Volk"; die Zeit des Zerfalls und der Sunde, in der vermöge des Gesetzes ein
Schein des Friedens herrsche: der Staat; die Zeit des wieder hergestellten, dnrch
Freiheit wiedergewonnenen Gottesfriedens: das Reich. Diese EintheilnngdcrStaats-
foruien schwebt ihm auch noch in neuester Zeit vor; er stellt sie der gewöhnlichen
in Monarchie, Aristokratie und Demokratie, deren EintheilungSprineip er als un¬
wesentlich und äußerlich bezeichnet, entgegen. Auch jetzt noch hält er daran fest,
daß der Staat des Gesetzes — und dieser in seiner vollendetsten Form ist die
Republik — nur für ein in Sünde verfallenes Geschlecht sich eigne. Die einzige
Aufgabe deö Fürsten und der Neichsgenvssen, worunter er die hohe Aristokratie
versteht, ist die, den Frieden zu schirme». Das gemeine Leben, die bürgerlichen
Verhältnisse der Handwerker u. s. w., ihre Noth und Armuth liegen außer dem
Bereich seiner Verpflichtungen; es ist eine thörichte Forderung, von den Fürsten
zu verlangen, daß sie dafür sorgen sollen. Zu solcher Lieblosigkeit verflüchtigt sich
die Liebe. — Der frömmelnd aristokratische Geist, in dem „Deutschland und der
Gottcefriede" geschrieben ist, ist allerdings das Grundelement auch in Stuhr'S
späteren Schriften, hat aber viel an seiner Härte und Schärfe verloren. Nament¬
lich hat Stuhr die Ansicht ganz fallen lassen, daß der Staat sich um die irdischen
Dinge nicht zu kümmern habe. Es versteht sich von selbst, sagt er in der Schrift
gegen Gervinus (1847), daß alle Richtungen des Staatslebens, auch die verein¬
zeltste» und äußerlichsten, selbst die Interessen der einzelnen Mitglieder des Staats
in die Berathungen der Gemeindeversammlungen zu ziehen sind. Ja selbst die
Neigung zu dem friedfertig stillen gemüthlichen Leben und der Haß gegen das
freie Spiel der Kräfte scheinen insofern nachgelassen zu haben, als er die innere
Berechtigung der Freiheitsbewegungen der neuern Zeit in dem öffentlichen Hervor¬
trete» und dem Kampfe der vorhandenen Gegensätze findet. Der Zustand deö
ewigen Friedens ist ihm jetzt das Ideal; ehe aber das Ende aller Tage erreicht
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geschichtliche Dasein ist aber die wahre Bestimmung deö Menschen.


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[0452] wird, ist Alles allein auf diese Idee bezogen. Die Wissenschaft und die Gelehrten werden geschmäht, die Kraft des menschlichen Verstandes verachtet, die Bestrebungen jener Zeit (t820), zur Freiheit und Einheit zu gelangen, verdammt; übrig bleibt nichts, als der Gottesfriede, der unter den Menschen ovium soll, und der im Gegensatz zu Paris von Berlin aus sich über die Welt verbreiten wird. Welchen Inhalt dies „ruhige und gottselige Leben in aller Stille und Ehrbarkeit" haben wird, wissen wir freilich nicht, da die Beschäftigungen des Bauern, Handwerkers und Kaufmanns als eben so niedrig angesehen werden, wie die Bestrebungen der Wissenschaft als ohnmächtig. Nur durch deu Frieden Gottes gewinnt die Wissen¬ schaft ein Ziel und einen Einheitspunkt. Die Gelehrten sollen gebenedeit sein durch den Frieden Gottes und die Priester erkcnntnißreich. Drei Zustände des me»sah> liehen Lebens gibt es, die Unmittelbarkeit des Friedens, von diesem gelte der Name „Volk"; die Zeit des Zerfalls und der Sunde, in der vermöge des Gesetzes ein Schein des Friedens herrsche: der Staat; die Zeit des wieder hergestellten, dnrch Freiheit wiedergewonnenen Gottesfriedens: das Reich. Diese EintheilnngdcrStaats- foruien schwebt ihm auch noch in neuester Zeit vor; er stellt sie der gewöhnlichen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie, deren EintheilungSprineip er als un¬ wesentlich und äußerlich bezeichnet, entgegen. Auch jetzt noch hält er daran fest, daß der Staat des Gesetzes — und dieser in seiner vollendetsten Form ist die Republik — nur für ein in Sünde verfallenes Geschlecht sich eigne. Die einzige Aufgabe deö Fürsten und der Neichsgenvssen, worunter er die hohe Aristokratie versteht, ist die, den Frieden zu schirme». Das gemeine Leben, die bürgerlichen Verhältnisse der Handwerker u. s. w., ihre Noth und Armuth liegen außer dem Bereich seiner Verpflichtungen; es ist eine thörichte Forderung, von den Fürsten zu verlangen, daß sie dafür sorgen sollen. Zu solcher Lieblosigkeit verflüchtigt sich die Liebe. — Der frömmelnd aristokratische Geist, in dem „Deutschland und der Gottcefriede" geschrieben ist, ist allerdings das Grundelement auch in Stuhr'S späteren Schriften, hat aber viel an seiner Härte und Schärfe verloren. Nament¬ lich hat Stuhr die Ansicht ganz fallen lassen, daß der Staat sich um die irdischen Dinge nicht zu kümmern habe. Es versteht sich von selbst, sagt er in der Schrift gegen Gervinus (1847), daß alle Richtungen des Staatslebens, auch die verein¬ zeltste» und äußerlichsten, selbst die Interessen der einzelnen Mitglieder des Staats in die Berathungen der Gemeindeversammlungen zu ziehen sind. Ja selbst die Neigung zu dem friedfertig stillen gemüthlichen Leben und der Haß gegen das freie Spiel der Kräfte scheinen insofern nachgelassen zu haben, als er die innere Berechtigung der Freiheitsbewegungen der neuern Zeit in dem öffentlichen Hervor¬ trete» und dem Kampfe der vorhandenen Gegensätze findet. Der Zustand deö ewigen Friedens ist ihm jetzt das Ideal; ehe aber das Ende aller Tage erreicht ist, sollen die Gegensätze sich auskämpfen; nur so ist die Geschichte lebendig; daS geschichtliche Dasein ist aber die wahre Bestimmung deö Menschen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/452>, abgerufen am 15.01.2025.