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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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ihm an sich als recht und sittlich erscheint, darum fallen zu lassen, weil es etwa
in dem Leben eines Volkes noch keine Wurzeln geschlagen hätte. Dieses Schwan¬
ken zwischen dem wirklich Geschichtlichen und seinen eigne" Ideen tritt z. B. sehr
bestimmt in dem Untergang der Naturstaaten hervor. Ihm ist das Princip der
Demokratie in Griechenland und Rom -- und dies beginnt ihm in Rom schon
Mit der Verfassung des Servius Tullius -- das auflösende Princip, das Princip
der Sünde, die Aristokratie das Princip der "freundlichen Gemeinschaft." Für
diese, für das gemüthliche und einige Zusammenleben, schwärmt er so, daß er es
ganz gerechtfertigt findet, wenn die Patrizier als Stand grausam und tyrannisch
gegen die Plebejer waren, denn sie kämpften ja für eine herrliche Idee. Dennoch
aber kann er sich auch von einer wahrhaft spcculariven Auffassung der Geschichte
nicht ganz lossagen; schou damals (1812) hegt er den Hegel'schen Gedanken, daß
das Wirkliche vernünftig sei; und obschon er in seinem Herzen der Demokratie
bitter grollt, so gesteht er doch auch wieder zu, vom geschichtlichen Standpunkte
aus augesehen, sei es eine ganz eitle Frage, ob die Demokratie oder die Aristo¬
kratie das Recht für sich hatte; denn in der höchsten Anschauungsweise löse sich
Alles unmittelbar in Nothwendigkeit auf, durch sein Dasein selber thue jedes sein
Recht dar. Er begründet näher das Recht der Demokratie, indem er zugesteht,
daß die Griechen ohne sie nicht ihre großen Leistungen in Wissenschaft und Kunst
vollbracht haben, die Römer ohne sie nicht das erobernde nud wahrhaft welthistorische
Volk geworden sein würden; er gibt zu, wer sich vorzugsweise angezogen fühle
dnrch ein freies Spiel der Kräfte, dnrch das Uebergewicht der menschlichen Fähig¬
keiten über die gemüthliche Seite, müsse sich für die Demokratie entscheiden; den¬
noch aber erklärt er sie in dem Grade für das sündhafte nud verderbliche Princip,
daß er sagt, von einer Ausartung der Demokratie könne man gar nicht.reden,
da sie schon an sich, in ihrem Princip, Ausartung sei. So steht bei ihm die
geschichtliche Auffassung mit persönlichen Ansichten vom Sittlichen in Widerspruch.

Dem Natnrpriucip in der Bildung der Staaten stellt Stuhr das Princip
der Freiheit -- und diese bezeichnet er bald als Willkür, bald als Sittlichkeit --
gegenüber. Bei einigen Völkern nun, wie bei den Griechen und Römern, findet
er, daß das Naturpriucip in einem gemüthlich gemeinsamen Leben bestanden habe,
bei andern, wie bei den Deutschen, in einem feindselig abgeschlossenen; bei jenen
ist ihm das Erwachen des Princips der Freiheit Abfall, bei diesen beginnt ihm
damit die Zeit wahrhafter Sittlichkeit, bei den Deutschen mit dem unter den Ka¬
rolingern geltenden Princip der Treue. - Diese Idee der gemüthlichen Einigkeit,
des ruhigen und gottseliger Lebens ist es, die er mit besonderer Vorliebe sein
ganzes Leben hindurch vertreten hat, am schärfsten und einseitigsten in "Deutsch¬
land und der Gottesfriede." In diesem Werk, das durch häufige Wiederholun¬
gen, durch verworrene Anordnung, dnrch einen starken pietistischen Beigeschmack
und durch eine Art von geistigem Rausch, mit der es geschrieben ist, fast unlesbar


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ihm an sich als recht und sittlich erscheint, darum fallen zu lassen, weil es etwa
in dem Leben eines Volkes noch keine Wurzeln geschlagen hätte. Dieses Schwan¬
ken zwischen dem wirklich Geschichtlichen und seinen eigne» Ideen tritt z. B. sehr
bestimmt in dem Untergang der Naturstaaten hervor. Ihm ist das Princip der
Demokratie in Griechenland und Rom — und dies beginnt ihm in Rom schon
Mit der Verfassung des Servius Tullius — das auflösende Princip, das Princip
der Sünde, die Aristokratie das Princip der „freundlichen Gemeinschaft." Für
diese, für das gemüthliche und einige Zusammenleben, schwärmt er so, daß er es
ganz gerechtfertigt findet, wenn die Patrizier als Stand grausam und tyrannisch
gegen die Plebejer waren, denn sie kämpften ja für eine herrliche Idee. Dennoch
aber kann er sich auch von einer wahrhaft spcculariven Auffassung der Geschichte
nicht ganz lossagen; schou damals (1812) hegt er den Hegel'schen Gedanken, daß
das Wirkliche vernünftig sei; und obschon er in seinem Herzen der Demokratie
bitter grollt, so gesteht er doch auch wieder zu, vom geschichtlichen Standpunkte
aus augesehen, sei es eine ganz eitle Frage, ob die Demokratie oder die Aristo¬
kratie das Recht für sich hatte; denn in der höchsten Anschauungsweise löse sich
Alles unmittelbar in Nothwendigkeit auf, durch sein Dasein selber thue jedes sein
Recht dar. Er begründet näher das Recht der Demokratie, indem er zugesteht,
daß die Griechen ohne sie nicht ihre großen Leistungen in Wissenschaft und Kunst
vollbracht haben, die Römer ohne sie nicht das erobernde nud wahrhaft welthistorische
Volk geworden sein würden; er gibt zu, wer sich vorzugsweise angezogen fühle
dnrch ein freies Spiel der Kräfte, dnrch das Uebergewicht der menschlichen Fähig¬
keiten über die gemüthliche Seite, müsse sich für die Demokratie entscheiden; den¬
noch aber erklärt er sie in dem Grade für das sündhafte nud verderbliche Princip,
daß er sagt, von einer Ausartung der Demokratie könne man gar nicht.reden,
da sie schon an sich, in ihrem Princip, Ausartung sei. So steht bei ihm die
geschichtliche Auffassung mit persönlichen Ansichten vom Sittlichen in Widerspruch.

Dem Natnrpriucip in der Bildung der Staaten stellt Stuhr das Princip
der Freiheit — und diese bezeichnet er bald als Willkür, bald als Sittlichkeit —
gegenüber. Bei einigen Völkern nun, wie bei den Griechen und Römern, findet
er, daß das Naturpriucip in einem gemüthlich gemeinsamen Leben bestanden habe,
bei andern, wie bei den Deutschen, in einem feindselig abgeschlossenen; bei jenen
ist ihm das Erwachen des Princips der Freiheit Abfall, bei diesen beginnt ihm
damit die Zeit wahrhafter Sittlichkeit, bei den Deutschen mit dem unter den Ka¬
rolingern geltenden Princip der Treue. - Diese Idee der gemüthlichen Einigkeit,
des ruhigen und gottseliger Lebens ist es, die er mit besonderer Vorliebe sein
ganzes Leben hindurch vertreten hat, am schärfsten und einseitigsten in „Deutsch¬
land und der Gottesfriede." In diesem Werk, das durch häufige Wiederholun¬
gen, durch verworrene Anordnung, dnrch einen starken pietistischen Beigeschmack
und durch eine Art von geistigem Rausch, mit der es geschrieben ist, fast unlesbar


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[0451] ihm an sich als recht und sittlich erscheint, darum fallen zu lassen, weil es etwa in dem Leben eines Volkes noch keine Wurzeln geschlagen hätte. Dieses Schwan¬ ken zwischen dem wirklich Geschichtlichen und seinen eigne» Ideen tritt z. B. sehr bestimmt in dem Untergang der Naturstaaten hervor. Ihm ist das Princip der Demokratie in Griechenland und Rom — und dies beginnt ihm in Rom schon Mit der Verfassung des Servius Tullius — das auflösende Princip, das Princip der Sünde, die Aristokratie das Princip der „freundlichen Gemeinschaft." Für diese, für das gemüthliche und einige Zusammenleben, schwärmt er so, daß er es ganz gerechtfertigt findet, wenn die Patrizier als Stand grausam und tyrannisch gegen die Plebejer waren, denn sie kämpften ja für eine herrliche Idee. Dennoch aber kann er sich auch von einer wahrhaft spcculariven Auffassung der Geschichte nicht ganz lossagen; schou damals (1812) hegt er den Hegel'schen Gedanken, daß das Wirkliche vernünftig sei; und obschon er in seinem Herzen der Demokratie bitter grollt, so gesteht er doch auch wieder zu, vom geschichtlichen Standpunkte aus augesehen, sei es eine ganz eitle Frage, ob die Demokratie oder die Aristo¬ kratie das Recht für sich hatte; denn in der höchsten Anschauungsweise löse sich Alles unmittelbar in Nothwendigkeit auf, durch sein Dasein selber thue jedes sein Recht dar. Er begründet näher das Recht der Demokratie, indem er zugesteht, daß die Griechen ohne sie nicht ihre großen Leistungen in Wissenschaft und Kunst vollbracht haben, die Römer ohne sie nicht das erobernde nud wahrhaft welthistorische Volk geworden sein würden; er gibt zu, wer sich vorzugsweise angezogen fühle dnrch ein freies Spiel der Kräfte, dnrch das Uebergewicht der menschlichen Fähig¬ keiten über die gemüthliche Seite, müsse sich für die Demokratie entscheiden; den¬ noch aber erklärt er sie in dem Grade für das sündhafte nud verderbliche Princip, daß er sagt, von einer Ausartung der Demokratie könne man gar nicht.reden, da sie schon an sich, in ihrem Princip, Ausartung sei. So steht bei ihm die geschichtliche Auffassung mit persönlichen Ansichten vom Sittlichen in Widerspruch. Dem Natnrpriucip in der Bildung der Staaten stellt Stuhr das Princip der Freiheit — und diese bezeichnet er bald als Willkür, bald als Sittlichkeit — gegenüber. Bei einigen Völkern nun, wie bei den Griechen und Römern, findet er, daß das Naturpriucip in einem gemüthlich gemeinsamen Leben bestanden habe, bei andern, wie bei den Deutschen, in einem feindselig abgeschlossenen; bei jenen ist ihm das Erwachen des Princips der Freiheit Abfall, bei diesen beginnt ihm damit die Zeit wahrhafter Sittlichkeit, bei den Deutschen mit dem unter den Ka¬ rolingern geltenden Princip der Treue. - Diese Idee der gemüthlichen Einigkeit, des ruhigen und gottseliger Lebens ist es, die er mit besonderer Vorliebe sein ganzes Leben hindurch vertreten hat, am schärfsten und einseitigsten in „Deutsch¬ land und der Gottesfriede." In diesem Werk, das durch häufige Wiederholun¬ gen, durch verworrene Anordnung, dnrch einen starken pietistischen Beigeschmack und durch eine Art von geistigem Rausch, mit der es geschrieben ist, fast unlesbar 57*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/451>, abgerufen am 15.01.2025.