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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Lectüre hier schon zum täglichen Brot, zur Lebensnothdurft geworden ist, um den
Unterschied zwischen einer deutschen und der französischen Hauptstadt augenfällig
zu gewahren. Hier lies't Jeder sein Journal, man begegnet Niemandem, der es
nicht in Händen hielte und gehend, fahrend, stehend darin studirte; der Kutscher
auf seinem Bock, der Onvrier an der Hobelbank, der Chissonnier ans dem Kehricht¬
haufen, ja selbst der Gamin -- Alle lesen die Zeitungen. In den unteren Re¬
gionen der Gesellschaft ist vor Andern das famose Journal le Peuple das poliri¬
sche Orakel. Es wird dasselbe täglich in einer fabelhaft großen Menge von Exem¬
plaren, meistens durch fliegende Buchhändler, verkauft. Jedermann, Socialist
oder nicht, kauft und lies't es, freut oder ärgert sich über seine heftigen, immer
interessanten, aber oft ins Persönliche streifenden Ausfälle. Trotz dem, daß es
schon zehnmal wegen Preßvergehen -- insbesondere wegen Proudhon's, des Re¬
dacteurs oil clivt', wüthender Angriffe auf den Präsidenten und sein Ministerium
-- zu immensen Geldstrafen verurtheilt worden ist, vermag doch tun noch so
schwerer Schlag sein zähes Leben zu enden. Jene belaufen sich auf nicht weniger
als 62.000 Franks -- aber schon ist eine Subscription zur Tilgung derselben er¬
öffnet, die bis jetzt etwa 20,000 Fr. eingebracht hat. Dergleichen wäre in Deutsch¬
land sicherlich unmöglich. Sie können übrigens schon ans diesem einen Factum
ersehen, daß der Socialismus in Frankreich auch uuter de" Besitzenden mehr und
mehr Anhänger erwirbt. Auch in der Armee beginnt er, Fortschritte zu machen;
die Socialisten sind aber auch unermüdlich in ihren Bestrebungen, die Soldateska
zu verführen. Wie sehr dies bis jetzt schon gelungen und wie geschickt sie operi-
ren, beweist die Wahl der drei Sergeanten Nattier, Bvichot und Commissaire in
die Nationalversammlung; es muß dieselbe, weil sie dem Stolz der Soldaten
schmeichelt, einen ungeheuern Erfolg haben. Alle Kasernen werden mit gratis
vertheilten socialistischen Journalen überschwemmt, und das trotz der ärgerlichsten
Wachsamkeit der Offiziere. Wehe dem armen Troupicr, der von einem seiner
Vorgesetzten etwa bei der Lectüre des Peuple betroffen wird -- man schickt ihn
so bald wie möglich nach Algerien -- es mag in dieser Provinz jetzt schon eine
recht hübsche Zahl von Jüngern des Socialismus in der blauen Jacke stecke".
Auf dem Boulevard Beaumarchais sah ich vor einigen Tagen, daß ein Polizei-
sergeant einem Soldaten den Peuple ans der Hand riß. Der resolute Krieger
belohnte dies Attentat augenblicklich mit einer fürchterlichen Ohrfeige, und als der
wüthende Diener der öffentlichen Sicherheit seinen Beleidiger verhaften wollte,
hatte sich im Augenblick ein Volkshaufen so drohend um ihn gesellt, daß er froh
war, blos mit der Ohrfeige, aber ohne Gefangenen, davon schleichen zu dürfen.
Dergleichen kleine Züge werfen treffende Schlaglichter auf die hiesigen Volks-
zustände.

Interessant ist die Präsentation der Candidaten zur Nationalversammlung
vor den socialistischen Wahlcomitvs, welche mit alle" möglichen Formalitäten ge-


Lectüre hier schon zum täglichen Brot, zur Lebensnothdurft geworden ist, um den
Unterschied zwischen einer deutschen und der französischen Hauptstadt augenfällig
zu gewahren. Hier lies't Jeder sein Journal, man begegnet Niemandem, der es
nicht in Händen hielte und gehend, fahrend, stehend darin studirte; der Kutscher
auf seinem Bock, der Onvrier an der Hobelbank, der Chissonnier ans dem Kehricht¬
haufen, ja selbst der Gamin — Alle lesen die Zeitungen. In den unteren Re¬
gionen der Gesellschaft ist vor Andern das famose Journal le Peuple das poliri¬
sche Orakel. Es wird dasselbe täglich in einer fabelhaft großen Menge von Exem¬
plaren, meistens durch fliegende Buchhändler, verkauft. Jedermann, Socialist
oder nicht, kauft und lies't es, freut oder ärgert sich über seine heftigen, immer
interessanten, aber oft ins Persönliche streifenden Ausfälle. Trotz dem, daß es
schon zehnmal wegen Preßvergehen — insbesondere wegen Proudhon's, des Re¬
dacteurs oil clivt', wüthender Angriffe auf den Präsidenten und sein Ministerium
— zu immensen Geldstrafen verurtheilt worden ist, vermag doch tun noch so
schwerer Schlag sein zähes Leben zu enden. Jene belaufen sich auf nicht weniger
als 62.000 Franks — aber schon ist eine Subscription zur Tilgung derselben er¬
öffnet, die bis jetzt etwa 20,000 Fr. eingebracht hat. Dergleichen wäre in Deutsch¬
land sicherlich unmöglich. Sie können übrigens schon ans diesem einen Factum
ersehen, daß der Socialismus in Frankreich auch uuter de» Besitzenden mehr und
mehr Anhänger erwirbt. Auch in der Armee beginnt er, Fortschritte zu machen;
die Socialisten sind aber auch unermüdlich in ihren Bestrebungen, die Soldateska
zu verführen. Wie sehr dies bis jetzt schon gelungen und wie geschickt sie operi-
ren, beweist die Wahl der drei Sergeanten Nattier, Bvichot und Commissaire in
die Nationalversammlung; es muß dieselbe, weil sie dem Stolz der Soldaten
schmeichelt, einen ungeheuern Erfolg haben. Alle Kasernen werden mit gratis
vertheilten socialistischen Journalen überschwemmt, und das trotz der ärgerlichsten
Wachsamkeit der Offiziere. Wehe dem armen Troupicr, der von einem seiner
Vorgesetzten etwa bei der Lectüre des Peuple betroffen wird — man schickt ihn
so bald wie möglich nach Algerien — es mag in dieser Provinz jetzt schon eine
recht hübsche Zahl von Jüngern des Socialismus in der blauen Jacke stecke».
Auf dem Boulevard Beaumarchais sah ich vor einigen Tagen, daß ein Polizei-
sergeant einem Soldaten den Peuple ans der Hand riß. Der resolute Krieger
belohnte dies Attentat augenblicklich mit einer fürchterlichen Ohrfeige, und als der
wüthende Diener der öffentlichen Sicherheit seinen Beleidiger verhaften wollte,
hatte sich im Augenblick ein Volkshaufen so drohend um ihn gesellt, daß er froh
war, blos mit der Ohrfeige, aber ohne Gefangenen, davon schleichen zu dürfen.
Dergleichen kleine Züge werfen treffende Schlaglichter auf die hiesigen Volks-
zustände.

Interessant ist die Präsentation der Candidaten zur Nationalversammlung
vor den socialistischen Wahlcomitvs, welche mit alle» möglichen Formalitäten ge-


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[0428] Lectüre hier schon zum täglichen Brot, zur Lebensnothdurft geworden ist, um den Unterschied zwischen einer deutschen und der französischen Hauptstadt augenfällig zu gewahren. Hier lies't Jeder sein Journal, man begegnet Niemandem, der es nicht in Händen hielte und gehend, fahrend, stehend darin studirte; der Kutscher auf seinem Bock, der Onvrier an der Hobelbank, der Chissonnier ans dem Kehricht¬ haufen, ja selbst der Gamin — Alle lesen die Zeitungen. In den unteren Re¬ gionen der Gesellschaft ist vor Andern das famose Journal le Peuple das poliri¬ sche Orakel. Es wird dasselbe täglich in einer fabelhaft großen Menge von Exem¬ plaren, meistens durch fliegende Buchhändler, verkauft. Jedermann, Socialist oder nicht, kauft und lies't es, freut oder ärgert sich über seine heftigen, immer interessanten, aber oft ins Persönliche streifenden Ausfälle. Trotz dem, daß es schon zehnmal wegen Preßvergehen — insbesondere wegen Proudhon's, des Re¬ dacteurs oil clivt', wüthender Angriffe auf den Präsidenten und sein Ministerium — zu immensen Geldstrafen verurtheilt worden ist, vermag doch tun noch so schwerer Schlag sein zähes Leben zu enden. Jene belaufen sich auf nicht weniger als 62.000 Franks — aber schon ist eine Subscription zur Tilgung derselben er¬ öffnet, die bis jetzt etwa 20,000 Fr. eingebracht hat. Dergleichen wäre in Deutsch¬ land sicherlich unmöglich. Sie können übrigens schon ans diesem einen Factum ersehen, daß der Socialismus in Frankreich auch uuter de» Besitzenden mehr und mehr Anhänger erwirbt. Auch in der Armee beginnt er, Fortschritte zu machen; die Socialisten sind aber auch unermüdlich in ihren Bestrebungen, die Soldateska zu verführen. Wie sehr dies bis jetzt schon gelungen und wie geschickt sie operi- ren, beweist die Wahl der drei Sergeanten Nattier, Bvichot und Commissaire in die Nationalversammlung; es muß dieselbe, weil sie dem Stolz der Soldaten schmeichelt, einen ungeheuern Erfolg haben. Alle Kasernen werden mit gratis vertheilten socialistischen Journalen überschwemmt, und das trotz der ärgerlichsten Wachsamkeit der Offiziere. Wehe dem armen Troupicr, der von einem seiner Vorgesetzten etwa bei der Lectüre des Peuple betroffen wird — man schickt ihn so bald wie möglich nach Algerien — es mag in dieser Provinz jetzt schon eine recht hübsche Zahl von Jüngern des Socialismus in der blauen Jacke stecke». Auf dem Boulevard Beaumarchais sah ich vor einigen Tagen, daß ein Polizei- sergeant einem Soldaten den Peuple ans der Hand riß. Der resolute Krieger belohnte dies Attentat augenblicklich mit einer fürchterlichen Ohrfeige, und als der wüthende Diener der öffentlichen Sicherheit seinen Beleidiger verhaften wollte, hatte sich im Augenblick ein Volkshaufen so drohend um ihn gesellt, daß er froh war, blos mit der Ohrfeige, aber ohne Gefangenen, davon schleichen zu dürfen. Dergleichen kleine Züge werfen treffende Schlaglichter auf die hiesigen Volks- zustände. Interessant ist die Präsentation der Candidaten zur Nationalversammlung vor den socialistischen Wahlcomitvs, welche mit alle» möglichen Formalitäten ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/428>, abgerufen am 15.01.2025.