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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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tretnng erklärte sich aber die öffentliche Meinung. Demnach ertheilte die Regie¬
rung, mit der verfassungsmäßigen Zustimmung des vereinigten Landtags, einer auf
Urwähler begründeten constituirenden Versammlung das Recht, die preußische
Verfassung zu entwerfen.

Die Versammlung wurde aufgelöst, weil sie über den Umfang ihrer Befug¬
nisse mit der Krone in einen Conflict gerieth, und die Krone verlieh einseitig die
Verfassung, doch so, daß sie den Entwurf der Constituante zu Grunde legte, daß
sie dem wichtigsten Factor der neuen legislativen Gewalt, der zweiten Kammer, die
ursprüngliche Form derselben ließ, und daß sie deu nächsten Kammern das Recht
vorbehielt, die Verfassung zu revidiren. Erst nach dieser Revision sollte sie be¬
schworen werden.

Nun sind aber die Kammern gleich zu Anfang ihrer Thätigkeit aufgelöst, die
Verfassung ist nicht revidirt und nicht beschworen, und die Regierung hat ihr
eignes Werk eigenmächtig verändert. Ihre frühere Versicherung, daß wir seit
dem 5. December in einem constitutionellen Staat leben, hat sich also als lügen¬
haft erwiesen, denn das ist kein constimtivneller Staat, wo die Regierung das
Recht hat, nach Beliebe" die Grundgesetze umzuwerfen.

Das Wahlgesetz war aber ein integnrender Theil der Verfassung, und zwar
einer der wesentlichsten. In der Trennung beider geht beiläufig die Regierung
mit den Demokraten Hand in Hand: die Linke nahm das Wahlgesetz an, aber
nicht die Verfassung.

Die ministerielle Denkschrift bezeichnet drei Punkte des Wahlgesetzes als solche,
die mit dem wahren Wohl des Staats nicht vereinbar wären: die ungenügende
Definition des Begriffs "selbstständig," die mangelhafte Oeffentlichkeit der Wahlen,
und die gleiche Berechtigung sämmtlicher Wähler. Das erste abzuändern findet
sie uicht angemessen, wenigstens nicht für jetzt; wahrscheinlich behält sie es einer
neuen Octroyirung vor, denn daß sie sich bestimmte Vorstellungen darüber ge¬
macht hat, zeigt der Entwurf des Reichswahlgcsetzes. Die beiden andern Punkte
dagegen modificirt sie uach Gutdünken.

Der neue Wahlmodus ist complicirt genug. In jedem Urwahlbezirk wird
ein Verzeichniß der Urwähler angefertigt, nach der Reihe, wie die Höhe ihrer
directen Steuern auf einander folgt. Die Steuern werden summirt und in der
Reihe, wo ein Drittel dieser Summe sich ergibt, ein Strich gemacht. Dahin
reichen die Urwähler der erfreu Classe. Das zweite Drittel bildet die zweite. Jede
Classe wählt die gleiche Anzahl der Wahlmänner.

Was das Materielle dieser beiden Abänderungen betrifft, so halte ich die
Oeffentlichkeit der Wahlen für einen Fortschritt. Zwar erhält dadurch uuver-
kcuni'air die Aristokratie einen größern Einfluß, aber dieser Nachtheil, der sich
um so mehr geltend macht, da diesmal der Armee eine unverhältnißmäßig große
Betheiligung bei den Wahlen zugestanden ist, wird dennoch aufgewogen durch


tretnng erklärte sich aber die öffentliche Meinung. Demnach ertheilte die Regie¬
rung, mit der verfassungsmäßigen Zustimmung des vereinigten Landtags, einer auf
Urwähler begründeten constituirenden Versammlung das Recht, die preußische
Verfassung zu entwerfen.

Die Versammlung wurde aufgelöst, weil sie über den Umfang ihrer Befug¬
nisse mit der Krone in einen Conflict gerieth, und die Krone verlieh einseitig die
Verfassung, doch so, daß sie den Entwurf der Constituante zu Grunde legte, daß
sie dem wichtigsten Factor der neuen legislativen Gewalt, der zweiten Kammer, die
ursprüngliche Form derselben ließ, und daß sie deu nächsten Kammern das Recht
vorbehielt, die Verfassung zu revidiren. Erst nach dieser Revision sollte sie be¬
schworen werden.

Nun sind aber die Kammern gleich zu Anfang ihrer Thätigkeit aufgelöst, die
Verfassung ist nicht revidirt und nicht beschworen, und die Regierung hat ihr
eignes Werk eigenmächtig verändert. Ihre frühere Versicherung, daß wir seit
dem 5. December in einem constitutionellen Staat leben, hat sich also als lügen¬
haft erwiesen, denn das ist kein constimtivneller Staat, wo die Regierung das
Recht hat, nach Beliebe» die Grundgesetze umzuwerfen.

Das Wahlgesetz war aber ein integnrender Theil der Verfassung, und zwar
einer der wesentlichsten. In der Trennung beider geht beiläufig die Regierung
mit den Demokraten Hand in Hand: die Linke nahm das Wahlgesetz an, aber
nicht die Verfassung.

Die ministerielle Denkschrift bezeichnet drei Punkte des Wahlgesetzes als solche,
die mit dem wahren Wohl des Staats nicht vereinbar wären: die ungenügende
Definition des Begriffs „selbstständig," die mangelhafte Oeffentlichkeit der Wahlen,
und die gleiche Berechtigung sämmtlicher Wähler. Das erste abzuändern findet
sie uicht angemessen, wenigstens nicht für jetzt; wahrscheinlich behält sie es einer
neuen Octroyirung vor, denn daß sie sich bestimmte Vorstellungen darüber ge¬
macht hat, zeigt der Entwurf des Reichswahlgcsetzes. Die beiden andern Punkte
dagegen modificirt sie uach Gutdünken.

Der neue Wahlmodus ist complicirt genug. In jedem Urwahlbezirk wird
ein Verzeichniß der Urwähler angefertigt, nach der Reihe, wie die Höhe ihrer
directen Steuern auf einander folgt. Die Steuern werden summirt und in der
Reihe, wo ein Drittel dieser Summe sich ergibt, ein Strich gemacht. Dahin
reichen die Urwähler der erfreu Classe. Das zweite Drittel bildet die zweite. Jede
Classe wählt die gleiche Anzahl der Wahlmänner.

Was das Materielle dieser beiden Abänderungen betrifft, so halte ich die
Oeffentlichkeit der Wahlen für einen Fortschritt. Zwar erhält dadurch uuver-
kcuni'air die Aristokratie einen größern Einfluß, aber dieser Nachtheil, der sich
um so mehr geltend macht, da diesmal der Armee eine unverhältnißmäßig große
Betheiligung bei den Wahlen zugestanden ist, wird dennoch aufgewogen durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/397>, abgerufen am 15.01.2025.