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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Märkte in materiellen und politischen Interessen, der Durchführung der Grund¬
rechte, der Wahrung der Märzerrungenschaften von 1848, der gesetzlichen Erlan¬
gung vollkommener politischer und religiöser Freiheit für Alle, der Erlangung deutscher
Einheit. Die Versammlung ist zwar vorläufig verboten worden, doch ist sie sicher nicht
auf lange zu verhindern. Schließt sich der gebildete Theil der katholischen Geistlichkeit
diesen Bestrebungen an, so ist der erste umfassende Anstoß zur Entsumpfung des
verwahrlosten Oberbaierns und seines Landvolks gegeben und die Folgen in ma¬
terieller wie intellectueller Beziehung siud unberechenbar.

Das Leben ist interessant überall wo man's packt, sagt Goethe, und er hat
Recht; wir dürfen bei Beurtheilung des Volkslebens anch die kleinsten Zeichen
aus demselben für richtigeres Verständniß der politischen, wie sociale" und reli¬
giösen Fragen der Gegenwart nicht übersehen. So ist in unserm ultramontanen
München, wo einst Prediger Eberhard von der Kanzel die Kinder aus gemischten
Ehen dem Teufel übergab, dem streng katholischen Se. Vincenzverein seit Mitte
Januar 1849 ein Waisenverein an die Seite getreten, der ohne Unter¬
schied der Konfession den schönen Zweck verfolgt, einfache und Doppelwaisen
der verstorbenen ordentlichen Mitglieder aus den mittleren Ständen, Militärs,
Bürgern, Künstlern zu erziehen, zu verpflegen, zu unterstützen und ihnen Wege
der Versorgung für's Leben zu bahnen. Ferner wirkt ein Verein deutscher
Frauen für Erziehung der Kinder in den Schule" und Unterbringen der Mäd¬
chen in guten Haushaltungen, wobei ihnen edle Lectüre und Erlernen aller weib¬
lichen Arbeiten geboten wird. Ferner sind zwei andere Fr ane,n vereine zur
Bildung weiblicher Dienstboten vorhanden, alle drei Vereine wirken ohne alle
Rücksicht auf die Confession der zu Unterstützenden. Wir erwähnen diese
erfreuliche Thatsache, weil sie noch vor einem Jahre im Münchner socialen Leben
zu den offenbaren Wundern gehört haben würde. Auch an sehr krankhaften Er¬
scheinungen unseres socialen Lebens fehlt es nicht; es ist bekannt, daß beinahe
alle bairischen Landtage den Antrag auf Abschaffung des Lotto wiederholt haben;
nun jetzt die Negierung Anstalten dazu macht, hat sich im Volk unter einem ge¬
wissen Carro ein Verein für das Lotto gebildet. Dieser sucht den unzwei-
felhaften Volkswillen zu erforschen, wie er selbst in seinem veröffentlichten Pro¬
gramm sagt: "gegen alle Kathedcrdoctrinen gelehrter Professoren, gegen den Glnh-
eifer überspannter Moralisten ohne Moral, gegen den Fluch fanatischer Prediger.
Der Volkswitz hat sich dieser Erscheinung bemächtigt und in Flugblätter" dargctha",
wie mit Abschaffung des Lotto auch die "katholische Religion" die höchste Gefahr laufe.

Nach vielen Gefahren und Hemmnissen hat sich dem ultramontanen Boden
endlich auch eine deutsch-katholische Gemeinde entringen können; sie zählt
ungefähr 250 Mitglieder und steht mit den freien Gemeinden in Franken *) und



*) Cs gibt freie und deutsch-katholische Gemeinden in Nürnberg, Altdorf, Fürth, Erlan¬
gen, Schwabach, Schweinfurt (wo Rouge sich aufhält).

Märkte in materiellen und politischen Interessen, der Durchführung der Grund¬
rechte, der Wahrung der Märzerrungenschaften von 1848, der gesetzlichen Erlan¬
gung vollkommener politischer und religiöser Freiheit für Alle, der Erlangung deutscher
Einheit. Die Versammlung ist zwar vorläufig verboten worden, doch ist sie sicher nicht
auf lange zu verhindern. Schließt sich der gebildete Theil der katholischen Geistlichkeit
diesen Bestrebungen an, so ist der erste umfassende Anstoß zur Entsumpfung des
verwahrlosten Oberbaierns und seines Landvolks gegeben und die Folgen in ma¬
terieller wie intellectueller Beziehung siud unberechenbar.

Das Leben ist interessant überall wo man's packt, sagt Goethe, und er hat
Recht; wir dürfen bei Beurtheilung des Volkslebens anch die kleinsten Zeichen
aus demselben für richtigeres Verständniß der politischen, wie sociale» und reli¬
giösen Fragen der Gegenwart nicht übersehen. So ist in unserm ultramontanen
München, wo einst Prediger Eberhard von der Kanzel die Kinder aus gemischten
Ehen dem Teufel übergab, dem streng katholischen Se. Vincenzverein seit Mitte
Januar 1849 ein Waisenverein an die Seite getreten, der ohne Unter¬
schied der Konfession den schönen Zweck verfolgt, einfache und Doppelwaisen
der verstorbenen ordentlichen Mitglieder aus den mittleren Ständen, Militärs,
Bürgern, Künstlern zu erziehen, zu verpflegen, zu unterstützen und ihnen Wege
der Versorgung für's Leben zu bahnen. Ferner wirkt ein Verein deutscher
Frauen für Erziehung der Kinder in den Schule» und Unterbringen der Mäd¬
chen in guten Haushaltungen, wobei ihnen edle Lectüre und Erlernen aller weib¬
lichen Arbeiten geboten wird. Ferner sind zwei andere Fr ane,n vereine zur
Bildung weiblicher Dienstboten vorhanden, alle drei Vereine wirken ohne alle
Rücksicht auf die Confession der zu Unterstützenden. Wir erwähnen diese
erfreuliche Thatsache, weil sie noch vor einem Jahre im Münchner socialen Leben
zu den offenbaren Wundern gehört haben würde. Auch an sehr krankhaften Er¬
scheinungen unseres socialen Lebens fehlt es nicht; es ist bekannt, daß beinahe
alle bairischen Landtage den Antrag auf Abschaffung des Lotto wiederholt haben;
nun jetzt die Negierung Anstalten dazu macht, hat sich im Volk unter einem ge¬
wissen Carro ein Verein für das Lotto gebildet. Dieser sucht den unzwei-
felhaften Volkswillen zu erforschen, wie er selbst in seinem veröffentlichten Pro¬
gramm sagt: „gegen alle Kathedcrdoctrinen gelehrter Professoren, gegen den Glnh-
eifer überspannter Moralisten ohne Moral, gegen den Fluch fanatischer Prediger.
Der Volkswitz hat sich dieser Erscheinung bemächtigt und in Flugblätter» dargctha»,
wie mit Abschaffung des Lotto auch die „katholische Religion" die höchste Gefahr laufe.

Nach vielen Gefahren und Hemmnissen hat sich dem ultramontanen Boden
endlich auch eine deutsch-katholische Gemeinde entringen können; sie zählt
ungefähr 250 Mitglieder und steht mit den freien Gemeinden in Franken *) und



*) Cs gibt freie und deutsch-katholische Gemeinden in Nürnberg, Altdorf, Fürth, Erlan¬
gen, Schwabach, Schweinfurt (wo Rouge sich aufhält).
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[0372] Märkte in materiellen und politischen Interessen, der Durchführung der Grund¬ rechte, der Wahrung der Märzerrungenschaften von 1848, der gesetzlichen Erlan¬ gung vollkommener politischer und religiöser Freiheit für Alle, der Erlangung deutscher Einheit. Die Versammlung ist zwar vorläufig verboten worden, doch ist sie sicher nicht auf lange zu verhindern. Schließt sich der gebildete Theil der katholischen Geistlichkeit diesen Bestrebungen an, so ist der erste umfassende Anstoß zur Entsumpfung des verwahrlosten Oberbaierns und seines Landvolks gegeben und die Folgen in ma¬ terieller wie intellectueller Beziehung siud unberechenbar. Das Leben ist interessant überall wo man's packt, sagt Goethe, und er hat Recht; wir dürfen bei Beurtheilung des Volkslebens anch die kleinsten Zeichen aus demselben für richtigeres Verständniß der politischen, wie sociale» und reli¬ giösen Fragen der Gegenwart nicht übersehen. So ist in unserm ultramontanen München, wo einst Prediger Eberhard von der Kanzel die Kinder aus gemischten Ehen dem Teufel übergab, dem streng katholischen Se. Vincenzverein seit Mitte Januar 1849 ein Waisenverein an die Seite getreten, der ohne Unter¬ schied der Konfession den schönen Zweck verfolgt, einfache und Doppelwaisen der verstorbenen ordentlichen Mitglieder aus den mittleren Ständen, Militärs, Bürgern, Künstlern zu erziehen, zu verpflegen, zu unterstützen und ihnen Wege der Versorgung für's Leben zu bahnen. Ferner wirkt ein Verein deutscher Frauen für Erziehung der Kinder in den Schule» und Unterbringen der Mäd¬ chen in guten Haushaltungen, wobei ihnen edle Lectüre und Erlernen aller weib¬ lichen Arbeiten geboten wird. Ferner sind zwei andere Fr ane,n vereine zur Bildung weiblicher Dienstboten vorhanden, alle drei Vereine wirken ohne alle Rücksicht auf die Confession der zu Unterstützenden. Wir erwähnen diese erfreuliche Thatsache, weil sie noch vor einem Jahre im Münchner socialen Leben zu den offenbaren Wundern gehört haben würde. Auch an sehr krankhaften Er¬ scheinungen unseres socialen Lebens fehlt es nicht; es ist bekannt, daß beinahe alle bairischen Landtage den Antrag auf Abschaffung des Lotto wiederholt haben; nun jetzt die Negierung Anstalten dazu macht, hat sich im Volk unter einem ge¬ wissen Carro ein Verein für das Lotto gebildet. Dieser sucht den unzwei- felhaften Volkswillen zu erforschen, wie er selbst in seinem veröffentlichten Pro¬ gramm sagt: „gegen alle Kathedcrdoctrinen gelehrter Professoren, gegen den Glnh- eifer überspannter Moralisten ohne Moral, gegen den Fluch fanatischer Prediger. Der Volkswitz hat sich dieser Erscheinung bemächtigt und in Flugblätter» dargctha», wie mit Abschaffung des Lotto auch die „katholische Religion" die höchste Gefahr laufe. Nach vielen Gefahren und Hemmnissen hat sich dem ultramontanen Boden endlich auch eine deutsch-katholische Gemeinde entringen können; sie zählt ungefähr 250 Mitglieder und steht mit den freien Gemeinden in Franken *) und *) Cs gibt freie und deutsch-katholische Gemeinden in Nürnberg, Altdorf, Fürth, Erlan¬ gen, Schwabach, Schweinfurt (wo Rouge sich aufhält).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/372>, abgerufen am 15.01.2025.