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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Denn es handelt sich hier nicht darum, ob dieser Stamm zu irgend einer
Zeit ein von den Polen verschiedenes Volk ausmachte, oder ob er, wenn gewisse
historische Ereignisse eingetreten oder nicht eingetreten wären, eine gesonderte na¬
tionale Existenz errungen oder bewahrt hätte, weil man sonst auch in England
noch heutzutage eine britische, sächsische und normännische Nationalität, in Frankreich
eine gallische und fränkische unterscheiden müßte; eben so wenig kommt es hier
auf die Rechtmäßigkeit oder auf die Moralität der Mittel an, die etwa in frühern
Zeiten angewendet sein mochten, um die Verschmelzung der westlichen Polen und
Ruthenen zu einem Volke zu bewirken oder zu befördern, sondern es kommt hier,
da die gemeinschaftliche Abstammung beider unbestritten ist, nur darauf an,
den Grad der Verwandtschaft zu bestimmen und sich klar zu machen, ob wir
hier jetzt zwei Völker desselben Stammes vor uns haben, die sich zu einander
etwa so verhalten, wie Deutsche und Schweden, oder vielmehr blos zwei verschie¬
dene Stämme eiues und desselben Volkes, z. B. wie Sachsen und Hessen, die
beide Deutsche sind. Suchen wir nun nach einem Criterium der Nationalität,
d. h. nach einem Merkmale, welches alle einzelnen Stämme, die wir für Ein
Volk halten, mit einander gemein haben, wodurch sie sich aber von allen andern,
selbst verwandten Völkern unterscheiden, so finden wir erstens, daß dieses Merkmal
uicht die Religion sein kann.

Bei den Völkern des Alterthums, z. B. deu Jude", Aegyptern u. a. mögen
allerdings Religion und Nationalität so innig verbunden gewesen sein, daß diese
eigentlich in jeuer aufging. Bei deu neuem aber, zumal europäischen Völkern ist
dies durchaus nicht mehr der Fall. So gehört z. B. fast der ganze romanische
Völkerstamm, Spanier, Franzosen, Italiener ze. der römisch katholischen Kirche
an, und doch wird deswegen Niemand diese verschiedenen Nationen für Ein Volk,
und umgekehrt die katholischen und protestantische" Deutschen für zwei verschiedene
Völker ansehen; und um so weniger kann dies in Polen der Fall sein, wo doch
zwischen römischen Katholiken und uuirten Griechen streng genommen nicht von
einer Verschiedenheit der Religion, soudern blos von einem verschiedenen Ritus
die Rede sein kann.

Die staatliche Einheit trägt zwar sehr viel bei, die einzelnen Stämme eines
Volkes zu vereinigen, und das nationale Bewußtsein bei ihnen zu erhöhen; daß
sie aber nicht das Criterium der Nationalität sei, sehen wir schon daraus, daß
wo sie einem Volke ganz oder zum Theile fehlt, es sich dennoch als ein Ganzes
fühlt, und, wenn es erst zu einer gewissen politischen Reife gelangt, darnach strebt,
seine innere Einheit auch äußerlich in seinem staatlichen Leben unter irgend einer
Form zur Erscheinung zu bringen, wie dies z. B. gegenwärtig in Deutschland und
Italien der Fall ist; während andererseits eine staatliche Einheit auch recht wohl
ohne eine nationale bestehen kann, wie z. B. in der Schweiz oder bei uns in
Oestreich.


Denn es handelt sich hier nicht darum, ob dieser Stamm zu irgend einer
Zeit ein von den Polen verschiedenes Volk ausmachte, oder ob er, wenn gewisse
historische Ereignisse eingetreten oder nicht eingetreten wären, eine gesonderte na¬
tionale Existenz errungen oder bewahrt hätte, weil man sonst auch in England
noch heutzutage eine britische, sächsische und normännische Nationalität, in Frankreich
eine gallische und fränkische unterscheiden müßte; eben so wenig kommt es hier
auf die Rechtmäßigkeit oder auf die Moralität der Mittel an, die etwa in frühern
Zeiten angewendet sein mochten, um die Verschmelzung der westlichen Polen und
Ruthenen zu einem Volke zu bewirken oder zu befördern, sondern es kommt hier,
da die gemeinschaftliche Abstammung beider unbestritten ist, nur darauf an,
den Grad der Verwandtschaft zu bestimmen und sich klar zu machen, ob wir
hier jetzt zwei Völker desselben Stammes vor uns haben, die sich zu einander
etwa so verhalten, wie Deutsche und Schweden, oder vielmehr blos zwei verschie¬
dene Stämme eiues und desselben Volkes, z. B. wie Sachsen und Hessen, die
beide Deutsche sind. Suchen wir nun nach einem Criterium der Nationalität,
d. h. nach einem Merkmale, welches alle einzelnen Stämme, die wir für Ein
Volk halten, mit einander gemein haben, wodurch sie sich aber von allen andern,
selbst verwandten Völkern unterscheiden, so finden wir erstens, daß dieses Merkmal
uicht die Religion sein kann.

Bei den Völkern des Alterthums, z. B. deu Jude», Aegyptern u. a. mögen
allerdings Religion und Nationalität so innig verbunden gewesen sein, daß diese
eigentlich in jeuer aufging. Bei deu neuem aber, zumal europäischen Völkern ist
dies durchaus nicht mehr der Fall. So gehört z. B. fast der ganze romanische
Völkerstamm, Spanier, Franzosen, Italiener ze. der römisch katholischen Kirche
an, und doch wird deswegen Niemand diese verschiedenen Nationen für Ein Volk,
und umgekehrt die katholischen und protestantische» Deutschen für zwei verschiedene
Völker ansehen; und um so weniger kann dies in Polen der Fall sein, wo doch
zwischen römischen Katholiken und uuirten Griechen streng genommen nicht von
einer Verschiedenheit der Religion, soudern blos von einem verschiedenen Ritus
die Rede sein kann.

Die staatliche Einheit trägt zwar sehr viel bei, die einzelnen Stämme eines
Volkes zu vereinigen, und das nationale Bewußtsein bei ihnen zu erhöhen; daß
sie aber nicht das Criterium der Nationalität sei, sehen wir schon daraus, daß
wo sie einem Volke ganz oder zum Theile fehlt, es sich dennoch als ein Ganzes
fühlt, und, wenn es erst zu einer gewissen politischen Reife gelangt, darnach strebt,
seine innere Einheit auch äußerlich in seinem staatlichen Leben unter irgend einer
Form zur Erscheinung zu bringen, wie dies z. B. gegenwärtig in Deutschland und
Italien der Fall ist; während andererseits eine staatliche Einheit auch recht wohl
ohne eine nationale bestehen kann, wie z. B. in der Schweiz oder bei uns in
Oestreich.


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[0364] Denn es handelt sich hier nicht darum, ob dieser Stamm zu irgend einer Zeit ein von den Polen verschiedenes Volk ausmachte, oder ob er, wenn gewisse historische Ereignisse eingetreten oder nicht eingetreten wären, eine gesonderte na¬ tionale Existenz errungen oder bewahrt hätte, weil man sonst auch in England noch heutzutage eine britische, sächsische und normännische Nationalität, in Frankreich eine gallische und fränkische unterscheiden müßte; eben so wenig kommt es hier auf die Rechtmäßigkeit oder auf die Moralität der Mittel an, die etwa in frühern Zeiten angewendet sein mochten, um die Verschmelzung der westlichen Polen und Ruthenen zu einem Volke zu bewirken oder zu befördern, sondern es kommt hier, da die gemeinschaftliche Abstammung beider unbestritten ist, nur darauf an, den Grad der Verwandtschaft zu bestimmen und sich klar zu machen, ob wir hier jetzt zwei Völker desselben Stammes vor uns haben, die sich zu einander etwa so verhalten, wie Deutsche und Schweden, oder vielmehr blos zwei verschie¬ dene Stämme eiues und desselben Volkes, z. B. wie Sachsen und Hessen, die beide Deutsche sind. Suchen wir nun nach einem Criterium der Nationalität, d. h. nach einem Merkmale, welches alle einzelnen Stämme, die wir für Ein Volk halten, mit einander gemein haben, wodurch sie sich aber von allen andern, selbst verwandten Völkern unterscheiden, so finden wir erstens, daß dieses Merkmal uicht die Religion sein kann. Bei den Völkern des Alterthums, z. B. deu Jude», Aegyptern u. a. mögen allerdings Religion und Nationalität so innig verbunden gewesen sein, daß diese eigentlich in jeuer aufging. Bei deu neuem aber, zumal europäischen Völkern ist dies durchaus nicht mehr der Fall. So gehört z. B. fast der ganze romanische Völkerstamm, Spanier, Franzosen, Italiener ze. der römisch katholischen Kirche an, und doch wird deswegen Niemand diese verschiedenen Nationen für Ein Volk, und umgekehrt die katholischen und protestantische» Deutschen für zwei verschiedene Völker ansehen; und um so weniger kann dies in Polen der Fall sein, wo doch zwischen römischen Katholiken und uuirten Griechen streng genommen nicht von einer Verschiedenheit der Religion, soudern blos von einem verschiedenen Ritus die Rede sein kann. Die staatliche Einheit trägt zwar sehr viel bei, die einzelnen Stämme eines Volkes zu vereinigen, und das nationale Bewußtsein bei ihnen zu erhöhen; daß sie aber nicht das Criterium der Nationalität sei, sehen wir schon daraus, daß wo sie einem Volke ganz oder zum Theile fehlt, es sich dennoch als ein Ganzes fühlt, und, wenn es erst zu einer gewissen politischen Reife gelangt, darnach strebt, seine innere Einheit auch äußerlich in seinem staatlichen Leben unter irgend einer Form zur Erscheinung zu bringen, wie dies z. B. gegenwärtig in Deutschland und Italien der Fall ist; während andererseits eine staatliche Einheit auch recht wohl ohne eine nationale bestehen kann, wie z. B. in der Schweiz oder bei uns in Oestreich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/364>, abgerufen am 15.01.2025.