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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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im Inhalt der einzelnen Geschichten vom Menschensohn in seiner Flüssigkeit dar,
er zeigte, wie das Wesentliche in denselben nicht die nackte Thatsache, sondern die
Vorstellung sei, die das Christenthum sich von seinem höchsten Wesen gemacht,
und wie diese Vorstellung innerhalb des Christenthums selbst sich entwickelt, und
damit auch den angeblichen Thatsachen eine andere Färbung gegeben habe. Die
Geschichten des Evangeliums wurden darüber zu Mythen, aber so, daß einerseits
sich in ihnen die ewige logische Wahrheit bildlich ausdrücken sollte, welche Hegel
im Christenthum gefunden hatte, und daß es auf der andern Seite dahingestellt
blieb, ob ihnen nicht neben dieser ewigen, symbolischen Bedeutung auch noch die
an sich gleichgiltige historische Wahrheit zukäme.

Zu dieser theologischen Eroberung der Schule verhielt sich der Rationalismus
uicht mehr so ablehnend, als zu ihrer frühern Scholastik. Hier fand man sich
auf neutralem Gebiet; zwar klangen die speculativen Wahrheiten, die in dem
christlichen Mythus ausgedichtet sein sollten, vornehmer als die einfache Anerken¬
nung der praktischen Interessen, wie sie Kant in der Religion gesucht hatte; zwar
blieb in der Entstehung der Mythen etwas Mystisches, denn zwar nicht der heilige
Geist, aber der christliche Geist, eine der Metamorphosen des geschichtlichen Gei¬
stes, sollte sie gedichtet haben, aber an diese Art der Entstehung war man schon
durch die Doctrin der "historischen" Schule von den Volksliedern, von der Sprache,
von dem Recht, das nicht aus einem bestimmten Act des Bewußtseins, sondern
naturwüchsig entstanden sein sollte, gewöhnt worden.

Für die Frommen war Strauß nicht genießbar, denn er war ein Schrift-
gelehrter. Den eigentlichen Theologen machte ihn dieser Umstand werth; er galt
ihnen als Ketzer, aber eben als solcher gehörte er in ihr Bereich. Am unange¬
nehmsten fanden sich die Hegelianer von der stritten Observanz überrascht, und
es war Bruno Bauer, der in ihrem Namen das System gegen den kühnen Neuerer
vertheidigte; eine Polemik, die ganz im Geist der alten Scholastik gehalten war,
und an sich selbst zu wenig Interesse bietet, um hier uoch näher erörtert zu wer¬
den. Die "Kritik" mußte ihre "Voraussetzung," die Scholastik, auf das Gründ¬
lichste durchmachen, um sich gründlich von ihr zu befreien. -- Die Polemik gegen
den rohen Empirismus der gottseliger evangelischen Kirchenzeitung ergänzte diesen
Kampf gegen den Abfall von der Schule, die sich wissende Rechtgläubigkeit schied
sich von der naiven.

Inzwischen fand die neue Richtung der Schule -- ungefähr um dieselbe Zeit
als Bauer nach Bonn versetzt wurde, einen Mittelpunkt in den Halleschen, später
den Deutschen Jahrbüchern. Zuerst war es die "liberale" Speculation, die sich
in ihnen aussprach; Rosenkranz und die andern vom "linken Centrum der Schule",
um mit Michelet zu reden; aber bald genug trat man in einen bestimmten Gegen¬
satz gegen die ganze Richtung der bisherigen Philosophie. Dieser Gegensatz be¬
stimmt gesetzt, ist folgender.


im Inhalt der einzelnen Geschichten vom Menschensohn in seiner Flüssigkeit dar,
er zeigte, wie das Wesentliche in denselben nicht die nackte Thatsache, sondern die
Vorstellung sei, die das Christenthum sich von seinem höchsten Wesen gemacht,
und wie diese Vorstellung innerhalb des Christenthums selbst sich entwickelt, und
damit auch den angeblichen Thatsachen eine andere Färbung gegeben habe. Die
Geschichten des Evangeliums wurden darüber zu Mythen, aber so, daß einerseits
sich in ihnen die ewige logische Wahrheit bildlich ausdrücken sollte, welche Hegel
im Christenthum gefunden hatte, und daß es auf der andern Seite dahingestellt
blieb, ob ihnen nicht neben dieser ewigen, symbolischen Bedeutung auch noch die
an sich gleichgiltige historische Wahrheit zukäme.

Zu dieser theologischen Eroberung der Schule verhielt sich der Rationalismus
uicht mehr so ablehnend, als zu ihrer frühern Scholastik. Hier fand man sich
auf neutralem Gebiet; zwar klangen die speculativen Wahrheiten, die in dem
christlichen Mythus ausgedichtet sein sollten, vornehmer als die einfache Anerken¬
nung der praktischen Interessen, wie sie Kant in der Religion gesucht hatte; zwar
blieb in der Entstehung der Mythen etwas Mystisches, denn zwar nicht der heilige
Geist, aber der christliche Geist, eine der Metamorphosen des geschichtlichen Gei¬
stes, sollte sie gedichtet haben, aber an diese Art der Entstehung war man schon
durch die Doctrin der „historischen" Schule von den Volksliedern, von der Sprache,
von dem Recht, das nicht aus einem bestimmten Act des Bewußtseins, sondern
naturwüchsig entstanden sein sollte, gewöhnt worden.

Für die Frommen war Strauß nicht genießbar, denn er war ein Schrift-
gelehrter. Den eigentlichen Theologen machte ihn dieser Umstand werth; er galt
ihnen als Ketzer, aber eben als solcher gehörte er in ihr Bereich. Am unange¬
nehmsten fanden sich die Hegelianer von der stritten Observanz überrascht, und
es war Bruno Bauer, der in ihrem Namen das System gegen den kühnen Neuerer
vertheidigte; eine Polemik, die ganz im Geist der alten Scholastik gehalten war,
und an sich selbst zu wenig Interesse bietet, um hier uoch näher erörtert zu wer¬
den. Die „Kritik" mußte ihre „Voraussetzung," die Scholastik, auf das Gründ¬
lichste durchmachen, um sich gründlich von ihr zu befreien. — Die Polemik gegen
den rohen Empirismus der gottseliger evangelischen Kirchenzeitung ergänzte diesen
Kampf gegen den Abfall von der Schule, die sich wissende Rechtgläubigkeit schied
sich von der naiven.

Inzwischen fand die neue Richtung der Schule — ungefähr um dieselbe Zeit
als Bauer nach Bonn versetzt wurde, einen Mittelpunkt in den Halleschen, später
den Deutschen Jahrbüchern. Zuerst war es die „liberale" Speculation, die sich
in ihnen aussprach; Rosenkranz und die andern vom „linken Centrum der Schule",
um mit Michelet zu reden; aber bald genug trat man in einen bestimmten Gegen¬
satz gegen die ganze Richtung der bisherigen Philosophie. Dieser Gegensatz be¬
stimmt gesetzt, ist folgender.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/320>, abgerufen am 15.01.2025.