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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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könne man nicht regieren. Es ist das an sich ein richtiger Vorwurf, den wir
selber schon mehrfach erhoben haben; die Kammer hat eine grenzenlose Ungeschick¬
lichkeit erwiesen, Beschlüsse zu fassen. In solchen Fallen hat allerdings die Ne¬
gierung nur die Wahl, durch eine Auflösung der Kammer an's Volk zu appelliren
oder zurückzutreten. Man löst die Kammern auf, wenn man auf einen günstigern
Ausfall der neuen Wahlen rechnet. In diesem Fall hat die Regierung nur Einen
Umstand übersehen. Jene Fluctuation beruhte gar nicht darauf, daß ihre Anhän¬
ger und ihre Gegner sich ungefähr die Wage hielten, sondern darin, daß die
verschiedenen Fractionen ihrer Gegner aus Eisersucht gegen einander jedesmal
verschiedene Anträge stellten, die zwar das Gemeinsame enthielten: "Die Politik
des Ministeriums ist erbärmlich," aber dann noch irgend einen unerheblichen Zu¬
satz, z. B. "gelb ist eine schone Farbe," oder grau oder dergleichen. Wenn
sie nach den eben so leidenschaftlichen als durchdachten Angriffen, in denen Viu cke,
der Repräsentant, wenn auch nicht der Führer des rechten Centrums, ihr System
in seiner ganzen Kläglichkeit enthüllte, drehe Partei zu ihren Anhängern rechnen,
so überschreitet das beinahe das Gebiet des Möglichen.

Wie dem auch sei, das Ministerium hat jedenfalls das formale Recht, die
Kammer aufzulösen, auch wenn es in derselben eine überwiegende Majorität gegen
sich hat, sobald esHuur hofft, in den neuen Wahlen zu siegen. Nach der Kon¬
stitution vom 5. December, die dnrch Annahme von Seiten der Kammer rechts¬
kräftig geworden ist, müssen die neuen Wahlen in spätestens 40 Tagen beendet,
die neuen Kammern in "0 Tagen einberufen sein. Ob das Ministerium darauf
rechnet, daß sie conservativer ausfallen werden! Folgende Umstände sprechen da¬
gegen. Die äußerste Rechte hat mehrfach ausgesprochen, daß bei den Urwähler
an eine zweckmäßige Volksvertretung nicht zu denken sei; daß sie selbst ihre Wahl
lediglich dem Zufall verdanke. Man hat die Urwähler mit zu den Motiven
gerechnet, der deutschen Reichsverfassung die Zustimmung zu versagen. Die letzten
Wahlen gingen aus einer Stimmung des größern Theils der Nation hervor, no
jeden Preis einen geordneten Zustand und als Fundament desselben die Anerken¬
nung der octroyirten Verfassung zu erwerben. Diese Anerkennung ist jetzt aber
ausgesprochen und es treten andere Bedürfnisse in den Vordergrund, die bereits
factisch einen großen Theil der rechten Seite bewogen haben, mit der Opposition
zu stimmen. Die Hoffnung des Ministeriums auf einen conservativen Ausfall der
neuen Wahlen wäre also wenigstens eine Illusion; daß dieselbe aber gar nicht eM
wesentlicher Bestimmungsgrund der Kammerauflösung war, zeigt das dritte, das
wichtigste und gefährlichste Motiv. Es wird mit dürren Worten gesagt, die KaM'
mer habe ihre Kompetenz mehrfach überschritten, und zwar namentlich in zwe
Fällen, bei dem Antrag auf Aufhebung des Belagerungsznstandes in Berlin "no
bei der Anerkennung der deutschen Reichsverfassung. Es ist also evident, daß
die Regierung die Möglichkeit, daß von den neuen Kammern ähnliche BeschlW


könne man nicht regieren. Es ist das an sich ein richtiger Vorwurf, den wir
selber schon mehrfach erhoben haben; die Kammer hat eine grenzenlose Ungeschick¬
lichkeit erwiesen, Beschlüsse zu fassen. In solchen Fallen hat allerdings die Ne¬
gierung nur die Wahl, durch eine Auflösung der Kammer an's Volk zu appelliren
oder zurückzutreten. Man löst die Kammern auf, wenn man auf einen günstigern
Ausfall der neuen Wahlen rechnet. In diesem Fall hat die Regierung nur Einen
Umstand übersehen. Jene Fluctuation beruhte gar nicht darauf, daß ihre Anhän¬
ger und ihre Gegner sich ungefähr die Wage hielten, sondern darin, daß die
verschiedenen Fractionen ihrer Gegner aus Eisersucht gegen einander jedesmal
verschiedene Anträge stellten, die zwar das Gemeinsame enthielten: „Die Politik
des Ministeriums ist erbärmlich," aber dann noch irgend einen unerheblichen Zu¬
satz, z. B. „gelb ist eine schone Farbe," oder grau oder dergleichen. Wenn
sie nach den eben so leidenschaftlichen als durchdachten Angriffen, in denen Viu cke,
der Repräsentant, wenn auch nicht der Führer des rechten Centrums, ihr System
in seiner ganzen Kläglichkeit enthüllte, drehe Partei zu ihren Anhängern rechnen,
so überschreitet das beinahe das Gebiet des Möglichen.

Wie dem auch sei, das Ministerium hat jedenfalls das formale Recht, die
Kammer aufzulösen, auch wenn es in derselben eine überwiegende Majorität gegen
sich hat, sobald esHuur hofft, in den neuen Wahlen zu siegen. Nach der Kon¬
stitution vom 5. December, die dnrch Annahme von Seiten der Kammer rechts¬
kräftig geworden ist, müssen die neuen Wahlen in spätestens 40 Tagen beendet,
die neuen Kammern in »0 Tagen einberufen sein. Ob das Ministerium darauf
rechnet, daß sie conservativer ausfallen werden! Folgende Umstände sprechen da¬
gegen. Die äußerste Rechte hat mehrfach ausgesprochen, daß bei den Urwähler
an eine zweckmäßige Volksvertretung nicht zu denken sei; daß sie selbst ihre Wahl
lediglich dem Zufall verdanke. Man hat die Urwähler mit zu den Motiven
gerechnet, der deutschen Reichsverfassung die Zustimmung zu versagen. Die letzten
Wahlen gingen aus einer Stimmung des größern Theils der Nation hervor, no
jeden Preis einen geordneten Zustand und als Fundament desselben die Anerken¬
nung der octroyirten Verfassung zu erwerben. Diese Anerkennung ist jetzt aber
ausgesprochen und es treten andere Bedürfnisse in den Vordergrund, die bereits
factisch einen großen Theil der rechten Seite bewogen haben, mit der Opposition
zu stimmen. Die Hoffnung des Ministeriums auf einen conservativen Ausfall der
neuen Wahlen wäre also wenigstens eine Illusion; daß dieselbe aber gar nicht eM
wesentlicher Bestimmungsgrund der Kammerauflösung war, zeigt das dritte, das
wichtigste und gefährlichste Motiv. Es wird mit dürren Worten gesagt, die KaM'
mer habe ihre Kompetenz mehrfach überschritten, und zwar namentlich in zwe
Fällen, bei dem Antrag auf Aufhebung des Belagerungsznstandes in Berlin »no
bei der Anerkennung der deutschen Reichsverfassung. Es ist also evident, daß
die Regierung die Möglichkeit, daß von den neuen Kammern ähnliche BeschlW


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[0234] könne man nicht regieren. Es ist das an sich ein richtiger Vorwurf, den wir selber schon mehrfach erhoben haben; die Kammer hat eine grenzenlose Ungeschick¬ lichkeit erwiesen, Beschlüsse zu fassen. In solchen Fallen hat allerdings die Ne¬ gierung nur die Wahl, durch eine Auflösung der Kammer an's Volk zu appelliren oder zurückzutreten. Man löst die Kammern auf, wenn man auf einen günstigern Ausfall der neuen Wahlen rechnet. In diesem Fall hat die Regierung nur Einen Umstand übersehen. Jene Fluctuation beruhte gar nicht darauf, daß ihre Anhän¬ ger und ihre Gegner sich ungefähr die Wage hielten, sondern darin, daß die verschiedenen Fractionen ihrer Gegner aus Eisersucht gegen einander jedesmal verschiedene Anträge stellten, die zwar das Gemeinsame enthielten: „Die Politik des Ministeriums ist erbärmlich," aber dann noch irgend einen unerheblichen Zu¬ satz, z. B. „gelb ist eine schone Farbe," oder grau oder dergleichen. Wenn sie nach den eben so leidenschaftlichen als durchdachten Angriffen, in denen Viu cke, der Repräsentant, wenn auch nicht der Führer des rechten Centrums, ihr System in seiner ganzen Kläglichkeit enthüllte, drehe Partei zu ihren Anhängern rechnen, so überschreitet das beinahe das Gebiet des Möglichen. Wie dem auch sei, das Ministerium hat jedenfalls das formale Recht, die Kammer aufzulösen, auch wenn es in derselben eine überwiegende Majorität gegen sich hat, sobald esHuur hofft, in den neuen Wahlen zu siegen. Nach der Kon¬ stitution vom 5. December, die dnrch Annahme von Seiten der Kammer rechts¬ kräftig geworden ist, müssen die neuen Wahlen in spätestens 40 Tagen beendet, die neuen Kammern in »0 Tagen einberufen sein. Ob das Ministerium darauf rechnet, daß sie conservativer ausfallen werden! Folgende Umstände sprechen da¬ gegen. Die äußerste Rechte hat mehrfach ausgesprochen, daß bei den Urwähler an eine zweckmäßige Volksvertretung nicht zu denken sei; daß sie selbst ihre Wahl lediglich dem Zufall verdanke. Man hat die Urwähler mit zu den Motiven gerechnet, der deutschen Reichsverfassung die Zustimmung zu versagen. Die letzten Wahlen gingen aus einer Stimmung des größern Theils der Nation hervor, no jeden Preis einen geordneten Zustand und als Fundament desselben die Anerken¬ nung der octroyirten Verfassung zu erwerben. Diese Anerkennung ist jetzt aber ausgesprochen und es treten andere Bedürfnisse in den Vordergrund, die bereits factisch einen großen Theil der rechten Seite bewogen haben, mit der Opposition zu stimmen. Die Hoffnung des Ministeriums auf einen conservativen Ausfall der neuen Wahlen wäre also wenigstens eine Illusion; daß dieselbe aber gar nicht eM wesentlicher Bestimmungsgrund der Kammerauflösung war, zeigt das dritte, das wichtigste und gefährlichste Motiv. Es wird mit dürren Worten gesagt, die KaM' mer habe ihre Kompetenz mehrfach überschritten, und zwar namentlich in zwe Fällen, bei dem Antrag auf Aufhebung des Belagerungsznstandes in Berlin »no bei der Anerkennung der deutschen Reichsverfassung. Es ist also evident, daß die Regierung die Möglichkeit, daß von den neuen Kammern ähnliche BeschlW

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/234>, abgerufen am 15.01.2025.