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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Vom Aufgehen Preußens in Deutschland hörten, so konnten wir das immer nur
so verstehen, daß der im preußischen Staat wenigstens im Keim vorhandene lebens¬
volle politische Organismus die Kräfte des übrigen Deutschlands in sich absorbi-
ren und sie zu einem blühenden und fruchtbaren Ganzen vereinigen müsse. So
haben wir auch das Gagernsche Programm und die Tendenzen der kaiserlichen
Partei aufgefaßt, die nicht erst vom Sturz das Ministerium Schmerling datirt.

Das Preußen des vorigen Jahres war allerdings geeignet, uns in unserm
Glauben irre zu machen; die Regierung, die constituirende Versammlung und die
Bewegung der untern Volksschichten, das Alles hatte in seiner Erscheinung den
Charakter des Hinsiecheus, der Fäulniß. Wir trennten das Wesen von der Erschei¬
nung und erklärten uns als eine nothwendige Krise der Krankheit, als Entwicklungs¬
prozeß der Reorganisation, worin Andere die Spuren der Verwesung erkennen
wollten. Jener Zustand schien uus nur einer gewaltigen, elektrischen Erschütte¬
rung zu bedürfen, um zu neuem Leben, zu neuer Bewegung geleitet zu werden.
Sittliche Zerwürfnisse werden nicht durch Palliativmittel geheilt, sondern nur durch
die Gluth eines großen Ereignisses, in welchem die verwandten Bildungsformen
einander finden und durch Krystallisation ein harmonisches Ganze erzeugen.

Die Erschütterung ist gekommen, nicht von Außen, sondern durch einen in¬
nerlichen Proceß. Wir haben die Contrerevolution, über deren rechtliche Seite
wir uns nie eine Täuschung machten, mit Freuden begrüßt, weil wir in ihr das
einzige Mittel sahen, das Volk aus seiner krankhaften, bereits chronisch geworde¬
nen Betrunkenheit gewaltsam heraus zu reißen. Die vollständige Losung der sub-
jectiven Willkür, wie sie in dem vorigen Jahr als Recht der Freiheit, der Revo¬
lution u. s. w. feierlich proclamirt und mit hinlänglicher Virtuosität ausgeübt wurde,
hat mit der Betrunkenheit das gemeinsam, daß sie sich nie für freier und kräftiger
hält, als wenn sie vollkommen unfrei und unkräftig ist. Der'Trunkenbold, frei
von den reactionären Fesseln der Vernunft, schwebt in den Sternen, und glaubt
schöpferisch über die Welt als den bloßen Inhalt und Ausfluß seiner Gedanken
ZU gebieten, während er in kläglicher Unfreiheit von den Stimmungen seines Ma¬
gens geleitet wird, er fordert die ganze Welt heraus, während er sich nicht auf
den eignen Beinen halten kann, während ein Fußtritt ihn umwirft. So war es
'N Berlin; die Contrerevolution machte dem souveränen Rausch ein Ende und die
jubelnden Nachtschwärmer sahen mit Schrecken und Schaam, daß ihre Kraft und
ihre Haltung uur eine eingebildete sei. Sie verstanden es wohl, die Geister zu
stiren, aber diese Geister kamen nicht.

Daß nun die ersten Stunden des Erwachens von jeuer dumpfen Empfindung
begleitet sein würden, die von einer durchschwärmten Nacht unzertrennlich ist, hat¬
ten wir erwartet, und die Aeußerungen dieser Empfindung haben uns nicht be¬
fremdet. Aber wir hielten den Glauben fest, daß bei dem ersten großen Schritt,
der am hellen Tage zu machen wäre, die wieder gefundene Vernunft sich geltend
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Vom Aufgehen Preußens in Deutschland hörten, so konnten wir das immer nur
so verstehen, daß der im preußischen Staat wenigstens im Keim vorhandene lebens¬
volle politische Organismus die Kräfte des übrigen Deutschlands in sich absorbi-
ren und sie zu einem blühenden und fruchtbaren Ganzen vereinigen müsse. So
haben wir auch das Gagernsche Programm und die Tendenzen der kaiserlichen
Partei aufgefaßt, die nicht erst vom Sturz das Ministerium Schmerling datirt.

Das Preußen des vorigen Jahres war allerdings geeignet, uns in unserm
Glauben irre zu machen; die Regierung, die constituirende Versammlung und die
Bewegung der untern Volksschichten, das Alles hatte in seiner Erscheinung den
Charakter des Hinsiecheus, der Fäulniß. Wir trennten das Wesen von der Erschei¬
nung und erklärten uns als eine nothwendige Krise der Krankheit, als Entwicklungs¬
prozeß der Reorganisation, worin Andere die Spuren der Verwesung erkennen
wollten. Jener Zustand schien uus nur einer gewaltigen, elektrischen Erschütte¬
rung zu bedürfen, um zu neuem Leben, zu neuer Bewegung geleitet zu werden.
Sittliche Zerwürfnisse werden nicht durch Palliativmittel geheilt, sondern nur durch
die Gluth eines großen Ereignisses, in welchem die verwandten Bildungsformen
einander finden und durch Krystallisation ein harmonisches Ganze erzeugen.

Die Erschütterung ist gekommen, nicht von Außen, sondern durch einen in¬
nerlichen Proceß. Wir haben die Contrerevolution, über deren rechtliche Seite
wir uns nie eine Täuschung machten, mit Freuden begrüßt, weil wir in ihr das
einzige Mittel sahen, das Volk aus seiner krankhaften, bereits chronisch geworde¬
nen Betrunkenheit gewaltsam heraus zu reißen. Die vollständige Losung der sub-
jectiven Willkür, wie sie in dem vorigen Jahr als Recht der Freiheit, der Revo¬
lution u. s. w. feierlich proclamirt und mit hinlänglicher Virtuosität ausgeübt wurde,
hat mit der Betrunkenheit das gemeinsam, daß sie sich nie für freier und kräftiger
hält, als wenn sie vollkommen unfrei und unkräftig ist. Der'Trunkenbold, frei
von den reactionären Fesseln der Vernunft, schwebt in den Sternen, und glaubt
schöpferisch über die Welt als den bloßen Inhalt und Ausfluß seiner Gedanken
ZU gebieten, während er in kläglicher Unfreiheit von den Stimmungen seines Ma¬
gens geleitet wird, er fordert die ganze Welt heraus, während er sich nicht auf
den eignen Beinen halten kann, während ein Fußtritt ihn umwirft. So war es
'N Berlin; die Contrerevolution machte dem souveränen Rausch ein Ende und die
jubelnden Nachtschwärmer sahen mit Schrecken und Schaam, daß ihre Kraft und
ihre Haltung uur eine eingebildete sei. Sie verstanden es wohl, die Geister zu
stiren, aber diese Geister kamen nicht.

Daß nun die ersten Stunden des Erwachens von jeuer dumpfen Empfindung
begleitet sein würden, die von einer durchschwärmten Nacht unzertrennlich ist, hat¬
ten wir erwartet, und die Aeußerungen dieser Empfindung haben uns nicht be¬
fremdet. Aber wir hielten den Glauben fest, daß bei dem ersten großen Schritt,
der am hellen Tage zu machen wäre, die wieder gefundene Vernunft sich geltend
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/193>, abgerufen am 15.01.2025.