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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Spinner und Weber durch Deutschland und öffnete die Geldbörsen der Mitleidigen;
vor drei Jahren erhob sich nach der Einverleibung Krakaus in das östreichische
Gebiet laute Klage der schlesischen Kaufmannschaft, und ein Jahr ist es jetzt her,
daß in den Strohhütten der oberschlesischen Ebenen eine grauenvolle pestartige
Seuche um sich fraß, welche Tausende von Opfern dahin raffte. Und wie in
früherer, glücklicher Zeit die großen Verhältnisse des Landes und eine großartige
Verbindung menschlicher Kräfte, enorme Reichthümer und ein schnelles Glück sehr
häufig verschafften, so zeigt sich jetzt in demselben Lande anch das Elend in unge¬
wöhnlich großem Maßstab und erschreckenden Formen.

Ein altes Leiden Schlesiens, fast so alt als seine Geschichte, ist der Ueber¬
gangsprozeß aus der polnischen Nationalität in die deutsche, welchen es noch jetzt
nicht beendigt hat. Ein solcher Entwickelnngsprozeß ist für jedes Volk gefährlich,
er lähmt seine Kraft auf Jahrhunderte. Während der Zeit, wo der Landmann
die alten Schöpfungen seiner Volkskraft verliert, wo ihm seine alte Sprache, sla¬
vische Gebräuche, die hundert Formeln, Sprüchwörter, Lieder nud Erinnerungen,
dnrch welche er seinem Leben Halt, Schmuck und Würde zu geben weiß, dahin¬
schwinden, ohne daß ihm die neue Sprache und deutsche Art recht bequem und
härtlich siud, während dieser Zeit, welche oft mehrere Menschenalter umfaßt, wird
sein inneres Leben sehr schwach, sehr unschön, sehr leer und dürstig; für sein idea¬
les Empfinden fehlt ihm jeder glückliche Ausdruck, die polnischen Melodien hat er
vergessen, die deutschen tönen ihm fremd und kommen ihm spärlich zu Ohren; die
alten würdigen und zahlreichen Sprüche und Ceremonie", mit denen er die Jahres¬
feste, alle Familienereignisse, kurz sein gesäumtes Leben sich weihte und schmückte,
werden ihm unklar und gehen mit dem Verständniß der slavischen Sprache, an
denen sie hängen, zu Gründe, und dadurch verliert er mehr an Selbstgefühl, ja
an sittlichem Halt, als wir Kulturmenschen glauben. -- Es versteht sich, daß dieser
Uebergang aus der naiven slavischen Existenz zu Kultur und Bewußtsein der
Deutschen im Großen betrachtet, doch ein ungeheurer Fortschritt ist, aber wohlver¬
standen, für das ganze Volk, für die Zukunft, nicht für die Einzelnen, welche ihn
in sich nur unvollständig durchmachen. Die Uebcrgangsgeneration selbst wird schwach,
haltlos, roh und unruhig erregt. In Schlesien ist seit hunderten vou Jahren das
ursprüngliche polnische Element schrittweise vou Dorf zu Dorf zurückgedrängt worden,
gegenwärtig beherrscht es in Oberschlesien noch eine halbe Million Menschen, natür¬
lich nur ans dem flachen Lande. Das Polnisch, welches sie sprechen, ist ein alter
verkümmerter Dialekt, dnrch Schriftsprache und den Mund der Gebildeten nicht
fortgezogen; außer einigen Gesang- und Gebetbüchern, einzelnen obrigkeitlichen
Erlassen und den demokratischen Plataeer dieses Sommers hat es fast gar keine
Literatur. Wie die Sprache ist auch das Leben der ländlichen polnischen Bevöl¬
kerung verkümmert. Der Grundbesitz ihrer Gegend ist fast ganz in den Händen
großer Eigenthümer, wenig kräftige bäuerliche Besitzungen, sehr viele kleine Leute,


Spinner und Weber durch Deutschland und öffnete die Geldbörsen der Mitleidigen;
vor drei Jahren erhob sich nach der Einverleibung Krakaus in das östreichische
Gebiet laute Klage der schlesischen Kaufmannschaft, und ein Jahr ist es jetzt her,
daß in den Strohhütten der oberschlesischen Ebenen eine grauenvolle pestartige
Seuche um sich fraß, welche Tausende von Opfern dahin raffte. Und wie in
früherer, glücklicher Zeit die großen Verhältnisse des Landes und eine großartige
Verbindung menschlicher Kräfte, enorme Reichthümer und ein schnelles Glück sehr
häufig verschafften, so zeigt sich jetzt in demselben Lande anch das Elend in unge¬
wöhnlich großem Maßstab und erschreckenden Formen.

Ein altes Leiden Schlesiens, fast so alt als seine Geschichte, ist der Ueber¬
gangsprozeß aus der polnischen Nationalität in die deutsche, welchen es noch jetzt
nicht beendigt hat. Ein solcher Entwickelnngsprozeß ist für jedes Volk gefährlich,
er lähmt seine Kraft auf Jahrhunderte. Während der Zeit, wo der Landmann
die alten Schöpfungen seiner Volkskraft verliert, wo ihm seine alte Sprache, sla¬
vische Gebräuche, die hundert Formeln, Sprüchwörter, Lieder nud Erinnerungen,
dnrch welche er seinem Leben Halt, Schmuck und Würde zu geben weiß, dahin¬
schwinden, ohne daß ihm die neue Sprache und deutsche Art recht bequem und
härtlich siud, während dieser Zeit, welche oft mehrere Menschenalter umfaßt, wird
sein inneres Leben sehr schwach, sehr unschön, sehr leer und dürstig; für sein idea¬
les Empfinden fehlt ihm jeder glückliche Ausdruck, die polnischen Melodien hat er
vergessen, die deutschen tönen ihm fremd und kommen ihm spärlich zu Ohren; die
alten würdigen und zahlreichen Sprüche und Ceremonie», mit denen er die Jahres¬
feste, alle Familienereignisse, kurz sein gesäumtes Leben sich weihte und schmückte,
werden ihm unklar und gehen mit dem Verständniß der slavischen Sprache, an
denen sie hängen, zu Gründe, und dadurch verliert er mehr an Selbstgefühl, ja
an sittlichem Halt, als wir Kulturmenschen glauben. — Es versteht sich, daß dieser
Uebergang aus der naiven slavischen Existenz zu Kultur und Bewußtsein der
Deutschen im Großen betrachtet, doch ein ungeheurer Fortschritt ist, aber wohlver¬
standen, für das ganze Volk, für die Zukunft, nicht für die Einzelnen, welche ihn
in sich nur unvollständig durchmachen. Die Uebcrgangsgeneration selbst wird schwach,
haltlos, roh und unruhig erregt. In Schlesien ist seit hunderten vou Jahren das
ursprüngliche polnische Element schrittweise vou Dorf zu Dorf zurückgedrängt worden,
gegenwärtig beherrscht es in Oberschlesien noch eine halbe Million Menschen, natür¬
lich nur ans dem flachen Lande. Das Polnisch, welches sie sprechen, ist ein alter
verkümmerter Dialekt, dnrch Schriftsprache und den Mund der Gebildeten nicht
fortgezogen; außer einigen Gesang- und Gebetbüchern, einzelnen obrigkeitlichen
Erlassen und den demokratischen Plataeer dieses Sommers hat es fast gar keine
Literatur. Wie die Sprache ist auch das Leben der ländlichen polnischen Bevöl¬
kerung verkümmert. Der Grundbesitz ihrer Gegend ist fast ganz in den Händen
großer Eigenthümer, wenig kräftige bäuerliche Besitzungen, sehr viele kleine Leute,


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[0093] Spinner und Weber durch Deutschland und öffnete die Geldbörsen der Mitleidigen; vor drei Jahren erhob sich nach der Einverleibung Krakaus in das östreichische Gebiet laute Klage der schlesischen Kaufmannschaft, und ein Jahr ist es jetzt her, daß in den Strohhütten der oberschlesischen Ebenen eine grauenvolle pestartige Seuche um sich fraß, welche Tausende von Opfern dahin raffte. Und wie in früherer, glücklicher Zeit die großen Verhältnisse des Landes und eine großartige Verbindung menschlicher Kräfte, enorme Reichthümer und ein schnelles Glück sehr häufig verschafften, so zeigt sich jetzt in demselben Lande anch das Elend in unge¬ wöhnlich großem Maßstab und erschreckenden Formen. Ein altes Leiden Schlesiens, fast so alt als seine Geschichte, ist der Ueber¬ gangsprozeß aus der polnischen Nationalität in die deutsche, welchen es noch jetzt nicht beendigt hat. Ein solcher Entwickelnngsprozeß ist für jedes Volk gefährlich, er lähmt seine Kraft auf Jahrhunderte. Während der Zeit, wo der Landmann die alten Schöpfungen seiner Volkskraft verliert, wo ihm seine alte Sprache, sla¬ vische Gebräuche, die hundert Formeln, Sprüchwörter, Lieder nud Erinnerungen, dnrch welche er seinem Leben Halt, Schmuck und Würde zu geben weiß, dahin¬ schwinden, ohne daß ihm die neue Sprache und deutsche Art recht bequem und härtlich siud, während dieser Zeit, welche oft mehrere Menschenalter umfaßt, wird sein inneres Leben sehr schwach, sehr unschön, sehr leer und dürstig; für sein idea¬ les Empfinden fehlt ihm jeder glückliche Ausdruck, die polnischen Melodien hat er vergessen, die deutschen tönen ihm fremd und kommen ihm spärlich zu Ohren; die alten würdigen und zahlreichen Sprüche und Ceremonie», mit denen er die Jahres¬ feste, alle Familienereignisse, kurz sein gesäumtes Leben sich weihte und schmückte, werden ihm unklar und gehen mit dem Verständniß der slavischen Sprache, an denen sie hängen, zu Gründe, und dadurch verliert er mehr an Selbstgefühl, ja an sittlichem Halt, als wir Kulturmenschen glauben. — Es versteht sich, daß dieser Uebergang aus der naiven slavischen Existenz zu Kultur und Bewußtsein der Deutschen im Großen betrachtet, doch ein ungeheurer Fortschritt ist, aber wohlver¬ standen, für das ganze Volk, für die Zukunft, nicht für die Einzelnen, welche ihn in sich nur unvollständig durchmachen. Die Uebcrgangsgeneration selbst wird schwach, haltlos, roh und unruhig erregt. In Schlesien ist seit hunderten vou Jahren das ursprüngliche polnische Element schrittweise vou Dorf zu Dorf zurückgedrängt worden, gegenwärtig beherrscht es in Oberschlesien noch eine halbe Million Menschen, natür¬ lich nur ans dem flachen Lande. Das Polnisch, welches sie sprechen, ist ein alter verkümmerter Dialekt, dnrch Schriftsprache und den Mund der Gebildeten nicht fortgezogen; außer einigen Gesang- und Gebetbüchern, einzelnen obrigkeitlichen Erlassen und den demokratischen Plataeer dieses Sommers hat es fast gar keine Literatur. Wie die Sprache ist auch das Leben der ländlichen polnischen Bevöl¬ kerung verkümmert. Der Grundbesitz ihrer Gegend ist fast ganz in den Händen großer Eigenthümer, wenig kräftige bäuerliche Besitzungen, sehr viele kleine Leute,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/93>, abgerufen am 23.07.2024.