Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Rückblick auf das Jahr



Die Blätter falle" von den Bäumen, die im "Volk'erfrühliug" mit der wun¬
derbaren Gewalt einer Treibhauspflanze zu sprossen begannen, aber es will kein
rechter Winter kommen. Die Stämme stehen kahl und Schauern, noch hat die
Axt, die sie für die deutsche Flotte fällen sollte, ihre Rinde nicht berührt. Die
Wege sind schmutzig, ein trüber Nebel breitet sich schwer auf Berg und Thal,
man hört Tritte auf den Straßen und erkennt den Freund nicht mehr, der schat-
tenglcich, laugsam und schweigend, vvrüberschleicht. Die Lichter aus der Stadt
schimmern in röthlicher Dämmerung, wie aus weiter Ferne, herüber. Schläfrig
und heiser klingen die Glocken; sie läuten nicht zum Sturm, sie verrichten ihr
gewohntes Geschäft, man hört sie halb verwundert und folgt ihnen nicht mehr.
Der alte und der neue Glaube, sie haben sich einander aufgehoben, und wie
Nachtwandler tappen die Menschen unbestimmte" Regungen nach, selbst zum Zwei¬
fel scheint ihnen der Muth zu gebrechen.

Ein leises, aber verdrießliches Fieber schüttelt unsere Glieder, der Kopf ist
schwer, die Augen umflort. Das Alter kommt über Nacht. Wie schön war der
Morgentraum! Elastische Jugend dehnte die Sehnen, in blitzender Rüstung, die
goldne Fahne hoch in den Lüften, getragen von üppiger Siegeslust, sprengten wir
einem eingebildeten Feinde entgegen, er zerwehte vor dem glühenden Hauch un¬
seres Muthes, dessen Erzeugniß er war, und schöne Arme breiteten sich aus, uns
zu umfangen, unser Haupt mit leicht gewonnenem Lorbeer zu kränzen. Wie Eg-
mont, fahren wir aus unserem Schlafe auf; noch klingen einzelne Accorde, noch
hüllt die gedämpfte Trommel in unser Ohr; wir lauschen, wir suchen nach dem
Sinn der Weise, die uns bekannt und doch wieder fremd vorkommt: ach es ist
ein christliches Sterbelied: "Nun laßt Ans den Leib begraben!" und wenn uns
plötzlich ein Spiegel unser eigenes Antlitz zeigte, gefurcht vou Sorgen und ge¬
bleicht und ermüdet selbst von Hoffnungen wir würden zuletzt ungewiß sein, ob
es nicht etwa uns selber gilt.

Es kommt im Traume vor, daß wir plötzlich, mitten nnter dem Chaos von
Abenteuern, in die wir uns verstrickt fühlen, von der Reflexion überrascht werden,
daß wir träumen. In einem schnellen, blendenden, aber rasch vorübergehenden


GrcnMe". I. ISii". 1,
Rückblick auf das Jahr



Die Blätter falle» von den Bäumen, die im „Volk'erfrühliug" mit der wun¬
derbaren Gewalt einer Treibhauspflanze zu sprossen begannen, aber es will kein
rechter Winter kommen. Die Stämme stehen kahl und Schauern, noch hat die
Axt, die sie für die deutsche Flotte fällen sollte, ihre Rinde nicht berührt. Die
Wege sind schmutzig, ein trüber Nebel breitet sich schwer auf Berg und Thal,
man hört Tritte auf den Straßen und erkennt den Freund nicht mehr, der schat-
tenglcich, laugsam und schweigend, vvrüberschleicht. Die Lichter aus der Stadt
schimmern in röthlicher Dämmerung, wie aus weiter Ferne, herüber. Schläfrig
und heiser klingen die Glocken; sie läuten nicht zum Sturm, sie verrichten ihr
gewohntes Geschäft, man hört sie halb verwundert und folgt ihnen nicht mehr.
Der alte und der neue Glaube, sie haben sich einander aufgehoben, und wie
Nachtwandler tappen die Menschen unbestimmte» Regungen nach, selbst zum Zwei¬
fel scheint ihnen der Muth zu gebrechen.

Ein leises, aber verdrießliches Fieber schüttelt unsere Glieder, der Kopf ist
schwer, die Augen umflort. Das Alter kommt über Nacht. Wie schön war der
Morgentraum! Elastische Jugend dehnte die Sehnen, in blitzender Rüstung, die
goldne Fahne hoch in den Lüften, getragen von üppiger Siegeslust, sprengten wir
einem eingebildeten Feinde entgegen, er zerwehte vor dem glühenden Hauch un¬
seres Muthes, dessen Erzeugniß er war, und schöne Arme breiteten sich aus, uns
zu umfangen, unser Haupt mit leicht gewonnenem Lorbeer zu kränzen. Wie Eg-
mont, fahren wir aus unserem Schlafe auf; noch klingen einzelne Accorde, noch
hüllt die gedämpfte Trommel in unser Ohr; wir lauschen, wir suchen nach dem
Sinn der Weise, die uns bekannt und doch wieder fremd vorkommt: ach es ist
ein christliches Sterbelied: „Nun laßt Ans den Leib begraben!" und wenn uns
plötzlich ein Spiegel unser eigenes Antlitz zeigte, gefurcht vou Sorgen und ge¬
bleicht und ermüdet selbst von Hoffnungen wir würden zuletzt ungewiß sein, ob
es nicht etwa uns selber gilt.

Es kommt im Traume vor, daß wir plötzlich, mitten nnter dem Chaos von
Abenteuern, in die wir uns verstrickt fühlen, von der Reflexion überrascht werden,
daß wir träumen. In einem schnellen, blendenden, aber rasch vorübergehenden


GrcnMe». I. ISii». 1,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0009" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/277997"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Rückblick auf das Jahr</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_11"> Die Blätter falle» von den Bäumen, die im &#x201E;Volk'erfrühliug" mit der wun¬<lb/>
derbaren Gewalt einer Treibhauspflanze zu sprossen begannen, aber es will kein<lb/>
rechter Winter kommen. Die Stämme stehen kahl und Schauern, noch hat die<lb/>
Axt, die sie für die deutsche Flotte fällen sollte, ihre Rinde nicht berührt. Die<lb/>
Wege sind schmutzig, ein trüber Nebel breitet sich schwer auf Berg und Thal,<lb/>
man hört Tritte auf den Straßen und erkennt den Freund nicht mehr, der schat-<lb/>
tenglcich, laugsam und schweigend, vvrüberschleicht. Die Lichter aus der Stadt<lb/>
schimmern in röthlicher Dämmerung, wie aus weiter Ferne, herüber. Schläfrig<lb/>
und heiser klingen die Glocken; sie läuten nicht zum Sturm, sie verrichten ihr<lb/>
gewohntes Geschäft, man hört sie halb verwundert und folgt ihnen nicht mehr.<lb/>
Der alte und der neue Glaube, sie haben sich einander aufgehoben, und wie<lb/>
Nachtwandler tappen die Menschen unbestimmte» Regungen nach, selbst zum Zwei¬<lb/>
fel scheint ihnen der Muth zu gebrechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_12"> Ein leises, aber verdrießliches Fieber schüttelt unsere Glieder, der Kopf ist<lb/>
schwer, die Augen umflort. Das Alter kommt über Nacht. Wie schön war der<lb/>
Morgentraum! Elastische Jugend dehnte die Sehnen, in blitzender Rüstung, die<lb/>
goldne Fahne hoch in den Lüften, getragen von üppiger Siegeslust, sprengten wir<lb/>
einem eingebildeten Feinde entgegen, er zerwehte vor dem glühenden Hauch un¬<lb/>
seres Muthes, dessen Erzeugniß er war, und schöne Arme breiteten sich aus, uns<lb/>
zu umfangen, unser Haupt mit leicht gewonnenem Lorbeer zu kränzen. Wie Eg-<lb/>
mont, fahren wir aus unserem Schlafe auf; noch klingen einzelne Accorde, noch<lb/>
hüllt die gedämpfte Trommel in unser Ohr; wir lauschen, wir suchen nach dem<lb/>
Sinn der Weise, die uns bekannt und doch wieder fremd vorkommt: ach es ist<lb/>
ein christliches Sterbelied: &#x201E;Nun laßt Ans den Leib begraben!" und wenn uns<lb/>
plötzlich ein Spiegel unser eigenes Antlitz zeigte, gefurcht vou Sorgen und ge¬<lb/>
bleicht und ermüdet selbst von Hoffnungen wir würden zuletzt ungewiß sein, ob<lb/>
es nicht etwa uns selber gilt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_13" next="#ID_14"> Es kommt im Traume vor, daß wir plötzlich, mitten nnter dem Chaos von<lb/>
Abenteuern, in die wir uns verstrickt fühlen, von der Reflexion überrascht werden,<lb/>
daß wir träumen. In einem schnellen, blendenden, aber rasch vorübergehenden</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> GrcnMe». I. ISii». 1,</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0009] Rückblick auf das Jahr Die Blätter falle» von den Bäumen, die im „Volk'erfrühliug" mit der wun¬ derbaren Gewalt einer Treibhauspflanze zu sprossen begannen, aber es will kein rechter Winter kommen. Die Stämme stehen kahl und Schauern, noch hat die Axt, die sie für die deutsche Flotte fällen sollte, ihre Rinde nicht berührt. Die Wege sind schmutzig, ein trüber Nebel breitet sich schwer auf Berg und Thal, man hört Tritte auf den Straßen und erkennt den Freund nicht mehr, der schat- tenglcich, laugsam und schweigend, vvrüberschleicht. Die Lichter aus der Stadt schimmern in röthlicher Dämmerung, wie aus weiter Ferne, herüber. Schläfrig und heiser klingen die Glocken; sie läuten nicht zum Sturm, sie verrichten ihr gewohntes Geschäft, man hört sie halb verwundert und folgt ihnen nicht mehr. Der alte und der neue Glaube, sie haben sich einander aufgehoben, und wie Nachtwandler tappen die Menschen unbestimmte» Regungen nach, selbst zum Zwei¬ fel scheint ihnen der Muth zu gebrechen. Ein leises, aber verdrießliches Fieber schüttelt unsere Glieder, der Kopf ist schwer, die Augen umflort. Das Alter kommt über Nacht. Wie schön war der Morgentraum! Elastische Jugend dehnte die Sehnen, in blitzender Rüstung, die goldne Fahne hoch in den Lüften, getragen von üppiger Siegeslust, sprengten wir einem eingebildeten Feinde entgegen, er zerwehte vor dem glühenden Hauch un¬ seres Muthes, dessen Erzeugniß er war, und schöne Arme breiteten sich aus, uns zu umfangen, unser Haupt mit leicht gewonnenem Lorbeer zu kränzen. Wie Eg- mont, fahren wir aus unserem Schlafe auf; noch klingen einzelne Accorde, noch hüllt die gedämpfte Trommel in unser Ohr; wir lauschen, wir suchen nach dem Sinn der Weise, die uns bekannt und doch wieder fremd vorkommt: ach es ist ein christliches Sterbelied: „Nun laßt Ans den Leib begraben!" und wenn uns plötzlich ein Spiegel unser eigenes Antlitz zeigte, gefurcht vou Sorgen und ge¬ bleicht und ermüdet selbst von Hoffnungen wir würden zuletzt ungewiß sein, ob es nicht etwa uns selber gilt. Es kommt im Traume vor, daß wir plötzlich, mitten nnter dem Chaos von Abenteuern, in die wir uns verstrickt fühlen, von der Reflexion überrascht werden, daß wir träumen. In einem schnellen, blendenden, aber rasch vorübergehenden GrcnMe». I. ISii». 1,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/9
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/9>, abgerufen am 22.12.2024.