Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

fang desselben so gering nicht, als man vielleicht glauben möchte. Betrachten Sie
das Strafrecht. Hier wird es selten vorkommen, daß Jemand ein äußeres Ge¬
setz unwissentlich übertritt, indem in der Regel mit dem Gesetz zugleich eine sitt¬
liche Vorschrift verletzt wird. Und blicken Sie auf das bürgerliche Recht. Wie
gering sind die Processe über streitiges Recht gegen die unendlich vielen Rechts¬
verhältnisse, die sich ruhig abwickeln, getragen von dem gleichen Rechtsbewußt¬
sein der Betheiligten.

Aber das Rechtsbewußtsein des Volkes ist nicht blos die Kenntniß seiner
Rechte, es ist zugleich anch ein Etwas in ihm, was über die bestehenden Schran¬
ken stets hinaus will; es ist zugleich auch die schöpferische Kraft, seiner fortschrei¬
tenden Entwickelung neue Formen, neue Gestaltungen zu geben. Das sind die
Gesetze. Die Gesetze sollen also der Abdruck des jedesmaligen Volksbewußtseins
sein. Das können sie sein, bei jeder Regierungsform. Und sie sind es gewesen
in der glorreichen Zeit unserer Gesetzgebung von 1807 bis 1815, in welcher
Männer an die Spitze der Staatsgewalt gestellt waren, welche die Bedürfnisse
der Nation, der Zeit so in sich aufgenommen hatten, daß sie dem Geiste des Vol¬
kes die richtige, allein rettende Bahn anwiesen. Aber das ist kein gesunder und
normaler Zustand, wo das Wohl und Wehe des Volkes davon abhängt, ob die
Umgebung des Fürsten seine Interessen und Bedürfnisse kennt und den guten
Willen hat, ihnen abzuhelfen, es ist vollends ein unnatürlicher Zustand, wenn
das Volk fühlt, daß es reif ist, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände
zu nehmen.

Lassen wir uns daher, meine Herren! durch kein augenblickliches Ungemach
die Frende verkümmern, daß wir jetzt in das höhere Stadium übergegangen sind,
in welchem das Volk durch seine eigenen Organe seinem Rechtsbewußtsein Form
und Leben geben wird. Juristen und bloße Staatsmänner vermögen das nicht.
Es bedarf der Zusammenwirkung der verschiedenartigsten und edelsten Kräfte des
Volkes, damit es in seinen Gesetzen den richtigen Ausdruck für seine Bedürfnisse
und seine Entwickelung findet. Juristen und Staatsmänner dürfen nur eine un¬
tergeordnete, handlangerische Thätigkeit bei Abfassung der Gesetze haben. Nach
den Anträgen des Volkes soll dem, was das Volt will, in den Gesetzen die rich¬
tige Form verliehen werden; erst auf Bestellung soll die Staatsgewalt Gesetze
machen. Bis jetzt war das bei uns nicht der Fall. Juristen und Staatsmänner
machten allein, ohne Bestellung, selbst ohne Maaß zu nehmen, dem Volke die
Gesetze, seine Kleider, und die Folge war, daß bald ein Rock zu eng, bald zu
weit ausfiel. Das wird nun Alles anders werden! Die alte Garderobe von Ge¬
setzen wird gesäubert, und bald wird das preußische und deutsche Volk in einem
neuen Anzüge prangen, so daß jeder fremde Cavalier von Volk tief vor ihm den
Hut ziehen wird! Zuerst aber wird es sich darum handeln, das Gesetz sür den
Staat selbst zu geben, es wird sich bei uns darum handeln, die Vertheilung der


Grenzboten. I. I""S. 9

fang desselben so gering nicht, als man vielleicht glauben möchte. Betrachten Sie
das Strafrecht. Hier wird es selten vorkommen, daß Jemand ein äußeres Ge¬
setz unwissentlich übertritt, indem in der Regel mit dem Gesetz zugleich eine sitt¬
liche Vorschrift verletzt wird. Und blicken Sie auf das bürgerliche Recht. Wie
gering sind die Processe über streitiges Recht gegen die unendlich vielen Rechts¬
verhältnisse, die sich ruhig abwickeln, getragen von dem gleichen Rechtsbewußt¬
sein der Betheiligten.

Aber das Rechtsbewußtsein des Volkes ist nicht blos die Kenntniß seiner
Rechte, es ist zugleich anch ein Etwas in ihm, was über die bestehenden Schran¬
ken stets hinaus will; es ist zugleich auch die schöpferische Kraft, seiner fortschrei¬
tenden Entwickelung neue Formen, neue Gestaltungen zu geben. Das sind die
Gesetze. Die Gesetze sollen also der Abdruck des jedesmaligen Volksbewußtseins
sein. Das können sie sein, bei jeder Regierungsform. Und sie sind es gewesen
in der glorreichen Zeit unserer Gesetzgebung von 1807 bis 1815, in welcher
Männer an die Spitze der Staatsgewalt gestellt waren, welche die Bedürfnisse
der Nation, der Zeit so in sich aufgenommen hatten, daß sie dem Geiste des Vol¬
kes die richtige, allein rettende Bahn anwiesen. Aber das ist kein gesunder und
normaler Zustand, wo das Wohl und Wehe des Volkes davon abhängt, ob die
Umgebung des Fürsten seine Interessen und Bedürfnisse kennt und den guten
Willen hat, ihnen abzuhelfen, es ist vollends ein unnatürlicher Zustand, wenn
das Volk fühlt, daß es reif ist, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände
zu nehmen.

Lassen wir uns daher, meine Herren! durch kein augenblickliches Ungemach
die Frende verkümmern, daß wir jetzt in das höhere Stadium übergegangen sind,
in welchem das Volk durch seine eigenen Organe seinem Rechtsbewußtsein Form
und Leben geben wird. Juristen und bloße Staatsmänner vermögen das nicht.
Es bedarf der Zusammenwirkung der verschiedenartigsten und edelsten Kräfte des
Volkes, damit es in seinen Gesetzen den richtigen Ausdruck für seine Bedürfnisse
und seine Entwickelung findet. Juristen und Staatsmänner dürfen nur eine un¬
tergeordnete, handlangerische Thätigkeit bei Abfassung der Gesetze haben. Nach
den Anträgen des Volkes soll dem, was das Volt will, in den Gesetzen die rich¬
tige Form verliehen werden; erst auf Bestellung soll die Staatsgewalt Gesetze
machen. Bis jetzt war das bei uns nicht der Fall. Juristen und Staatsmänner
machten allein, ohne Bestellung, selbst ohne Maaß zu nehmen, dem Volke die
Gesetze, seine Kleider, und die Folge war, daß bald ein Rock zu eng, bald zu
weit ausfiel. Das wird nun Alles anders werden! Die alte Garderobe von Ge¬
setzen wird gesäubert, und bald wird das preußische und deutsche Volk in einem
neuen Anzüge prangen, so daß jeder fremde Cavalier von Volk tief vor ihm den
Hut ziehen wird! Zuerst aber wird es sich darum handeln, das Gesetz sür den
Staat selbst zu geben, es wird sich bei uns darum handeln, die Vertheilung der


Grenzboten. I. I»«S. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0073" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278061"/>
          <p xml:id="ID_221" prev="#ID_220"> fang desselben so gering nicht, als man vielleicht glauben möchte. Betrachten Sie<lb/>
das Strafrecht. Hier wird es selten vorkommen, daß Jemand ein äußeres Ge¬<lb/>
setz unwissentlich übertritt, indem in der Regel mit dem Gesetz zugleich eine sitt¬<lb/>
liche Vorschrift verletzt wird. Und blicken Sie auf das bürgerliche Recht. Wie<lb/>
gering sind die Processe über streitiges Recht gegen die unendlich vielen Rechts¬<lb/>
verhältnisse, die sich ruhig abwickeln, getragen von dem gleichen Rechtsbewußt¬<lb/>
sein der Betheiligten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_222"> Aber das Rechtsbewußtsein des Volkes ist nicht blos die Kenntniß seiner<lb/>
Rechte, es ist zugleich anch ein Etwas in ihm, was über die bestehenden Schran¬<lb/>
ken stets hinaus will; es ist zugleich auch die schöpferische Kraft, seiner fortschrei¬<lb/>
tenden Entwickelung neue Formen, neue Gestaltungen zu geben. Das sind die<lb/>
Gesetze. Die Gesetze sollen also der Abdruck des jedesmaligen Volksbewußtseins<lb/>
sein. Das können sie sein, bei jeder Regierungsform. Und sie sind es gewesen<lb/>
in der glorreichen Zeit unserer Gesetzgebung von 1807 bis 1815, in welcher<lb/>
Männer an die Spitze der Staatsgewalt gestellt waren, welche die Bedürfnisse<lb/>
der Nation, der Zeit so in sich aufgenommen hatten, daß sie dem Geiste des Vol¬<lb/>
kes die richtige, allein rettende Bahn anwiesen. Aber das ist kein gesunder und<lb/>
normaler Zustand, wo das Wohl und Wehe des Volkes davon abhängt, ob die<lb/>
Umgebung des Fürsten seine Interessen und Bedürfnisse kennt und den guten<lb/>
Willen hat, ihnen abzuhelfen, es ist vollends ein unnatürlicher Zustand, wenn<lb/>
das Volk fühlt, daß es reif ist, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände<lb/>
zu nehmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_223" next="#ID_224"> Lassen wir uns daher, meine Herren! durch kein augenblickliches Ungemach<lb/>
die Frende verkümmern, daß wir jetzt in das höhere Stadium übergegangen sind,<lb/>
in welchem das Volk durch seine eigenen Organe seinem Rechtsbewußtsein Form<lb/>
und Leben geben wird. Juristen und bloße Staatsmänner vermögen das nicht.<lb/>
Es bedarf der Zusammenwirkung der verschiedenartigsten und edelsten Kräfte des<lb/>
Volkes, damit es in seinen Gesetzen den richtigen Ausdruck für seine Bedürfnisse<lb/>
und seine Entwickelung findet. Juristen und Staatsmänner dürfen nur eine un¬<lb/>
tergeordnete, handlangerische Thätigkeit bei Abfassung der Gesetze haben. Nach<lb/>
den Anträgen des Volkes soll dem, was das Volt will, in den Gesetzen die rich¬<lb/>
tige Form verliehen werden; erst auf Bestellung soll die Staatsgewalt Gesetze<lb/>
machen. Bis jetzt war das bei uns nicht der Fall. Juristen und Staatsmänner<lb/>
machten allein, ohne Bestellung, selbst ohne Maaß zu nehmen, dem Volke die<lb/>
Gesetze, seine Kleider, und die Folge war, daß bald ein Rock zu eng, bald zu<lb/>
weit ausfiel. Das wird nun Alles anders werden! Die alte Garderobe von Ge¬<lb/>
setzen wird gesäubert, und bald wird das preußische und deutsche Volk in einem<lb/>
neuen Anzüge prangen, so daß jeder fremde Cavalier von Volk tief vor ihm den<lb/>
Hut ziehen wird! Zuerst aber wird es sich darum handeln, das Gesetz sür den<lb/>
Staat selbst zu geben, es wird sich bei uns darum handeln, die Vertheilung der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. I. I»«S. 9</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0073] fang desselben so gering nicht, als man vielleicht glauben möchte. Betrachten Sie das Strafrecht. Hier wird es selten vorkommen, daß Jemand ein äußeres Ge¬ setz unwissentlich übertritt, indem in der Regel mit dem Gesetz zugleich eine sitt¬ liche Vorschrift verletzt wird. Und blicken Sie auf das bürgerliche Recht. Wie gering sind die Processe über streitiges Recht gegen die unendlich vielen Rechts¬ verhältnisse, die sich ruhig abwickeln, getragen von dem gleichen Rechtsbewußt¬ sein der Betheiligten. Aber das Rechtsbewußtsein des Volkes ist nicht blos die Kenntniß seiner Rechte, es ist zugleich anch ein Etwas in ihm, was über die bestehenden Schran¬ ken stets hinaus will; es ist zugleich auch die schöpferische Kraft, seiner fortschrei¬ tenden Entwickelung neue Formen, neue Gestaltungen zu geben. Das sind die Gesetze. Die Gesetze sollen also der Abdruck des jedesmaligen Volksbewußtseins sein. Das können sie sein, bei jeder Regierungsform. Und sie sind es gewesen in der glorreichen Zeit unserer Gesetzgebung von 1807 bis 1815, in welcher Männer an die Spitze der Staatsgewalt gestellt waren, welche die Bedürfnisse der Nation, der Zeit so in sich aufgenommen hatten, daß sie dem Geiste des Vol¬ kes die richtige, allein rettende Bahn anwiesen. Aber das ist kein gesunder und normaler Zustand, wo das Wohl und Wehe des Volkes davon abhängt, ob die Umgebung des Fürsten seine Interessen und Bedürfnisse kennt und den guten Willen hat, ihnen abzuhelfen, es ist vollends ein unnatürlicher Zustand, wenn das Volk fühlt, daß es reif ist, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hände zu nehmen. Lassen wir uns daher, meine Herren! durch kein augenblickliches Ungemach die Frende verkümmern, daß wir jetzt in das höhere Stadium übergegangen sind, in welchem das Volk durch seine eigenen Organe seinem Rechtsbewußtsein Form und Leben geben wird. Juristen und bloße Staatsmänner vermögen das nicht. Es bedarf der Zusammenwirkung der verschiedenartigsten und edelsten Kräfte des Volkes, damit es in seinen Gesetzen den richtigen Ausdruck für seine Bedürfnisse und seine Entwickelung findet. Juristen und Staatsmänner dürfen nur eine un¬ tergeordnete, handlangerische Thätigkeit bei Abfassung der Gesetze haben. Nach den Anträgen des Volkes soll dem, was das Volt will, in den Gesetzen die rich¬ tige Form verliehen werden; erst auf Bestellung soll die Staatsgewalt Gesetze machen. Bis jetzt war das bei uns nicht der Fall. Juristen und Staatsmänner machten allein, ohne Bestellung, selbst ohne Maaß zu nehmen, dem Volke die Gesetze, seine Kleider, und die Folge war, daß bald ein Rock zu eng, bald zu weit ausfiel. Das wird nun Alles anders werden! Die alte Garderobe von Ge¬ setzen wird gesäubert, und bald wird das preußische und deutsche Volk in einem neuen Anzüge prangen, so daß jeder fremde Cavalier von Volk tief vor ihm den Hut ziehen wird! Zuerst aber wird es sich darum handeln, das Gesetz sür den Staat selbst zu geben, es wird sich bei uns darum handeln, die Vertheilung der Grenzboten. I. I»«S. 9

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/73
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/73>, abgerufen am 23.07.2024.