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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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solchen zusammen gewachsen, durch die Macht übereinstimmender Gedanken, Ge¬
fühle und Sitten. Die Völker in den Anfängen der Geschichte führen ein sich in
bestimmten festen Vorstellungen bewegendes, naturwüchsiges, instinktartiges Leben.
Daher ist von einer bewußten willkürlichen Gründung des Staates, von einer
Wahl der Menschen, ob sie in einem Staate oder nicht, ob sie in einem so oder
anders regierten Staate leben wollen, niemals die Rede gewesen.

Das, was man Urrechte, oder angeborne Rechte nennt, ist entweder ein
Phantom, oder es ist, wo es eine wirkliche Grundlage hat, nichts weiter,, als
eine durch den Fortschritt der Geschichte im Staate schwer errungene Frucht der
Civilisation. Lassen Sie uns das, meine Herren! an einem Beispiele betrachten.
Ans dem Urrecht ans die Freiheit soll folgen, daß die Sclaverei keine Geltung
habe. Und dennoch fand die Sclaverei bei den alten Griechen und Römern statt,
bei denen sie mit ihren besten Staatseinrichtungen zusammenhing, und sie findet
heut zu Tage noch statt, und die Sclaven bleiben, trotz ihres angeborenen Rechts
auf Freiheit, dennoch Sclaven.

Die richtige Ansicht ist diese. Die Sclaverei verstößt gegen kein angeborenes
Recht, weil alle Rechte im Staate erworben werden müssen. Wo sie vorhanden
ist, da ist sie ein Recht, und wird als Recht eben so gut geschützt, wie jedes
audere. Aber es widerstrebt unserm innersten Wesen, daß ein Mensch den an¬
dern wie eine Sache, wie ein begrenztes Stück Natur behandeln soll. Die Na¬
tur, die unentwickelte, rohe, menschliche Natur ließ die Sclaverei zu, aber die
Kunst, die Civilisation, hat sie verbannt!

Also, meine Herren! Es gibt kein unwandelbares festes Naturrecht! Es
gibt keine Urrechte! Es gibt nur Volksrechte! nur Rechte, die in der Geschichte
und in der lebendigen Gegenwart ihre Wurzeln haben. Die Quelle dieser Rechte
ist das Rechtsbewußtsein der Volksgenossen. Zu diesem Rechtsbewußtsein trägt
der Mensch mir den Keim in sich, ein Keim, der sich um so freier und reicher
entwickelt, je fruchtbarer der Acker des Staats ist, in welchen er gefallen.

Das Rechtsbewußtsein aber ist ein doppeltes. Es ist einmal die Kenntniß
der im Staate geltenden, die Gesellschaft zusammenhaltenden.Normen und Regeln,
wie sie dem Bürger inne wohnt. Diese Kenntniß strömt einem Jedem durch die
Erfahrungen, die er im Verkehr mit Einzelnen und mit dem Ganzen, dem Staate,
gemacht hat, durch Studium von Geschichte und Politik, durch Lektüre von Zei¬
tungen, durch die Berührung mit den Einrichtungen des Staats- und Gemein¬
delebens, unmittelbar gleich der Lebensluft die er einathmet, zu. Das Rechts-
bewußtsein bildet sich ähnlich der Sprache. Auch Jeder aus dem Volke, der die
Wissenschaft der Sprache, die Grammatik nicht dein Namen nach kennt, lernt sie
in all ihren reichen und künstlichen Wendungen im Allgemeinen richtig gebrauchen.

Und selbst da, wo die Hauptstützen eines gesunden und festen Rechtsbewußt¬
seins, öffentliche Institutionen und politische Freiheit gefehlt haben, ist der Um-


solchen zusammen gewachsen, durch die Macht übereinstimmender Gedanken, Ge¬
fühle und Sitten. Die Völker in den Anfängen der Geschichte führen ein sich in
bestimmten festen Vorstellungen bewegendes, naturwüchsiges, instinktartiges Leben.
Daher ist von einer bewußten willkürlichen Gründung des Staates, von einer
Wahl der Menschen, ob sie in einem Staate oder nicht, ob sie in einem so oder
anders regierten Staate leben wollen, niemals die Rede gewesen.

Das, was man Urrechte, oder angeborne Rechte nennt, ist entweder ein
Phantom, oder es ist, wo es eine wirkliche Grundlage hat, nichts weiter,, als
eine durch den Fortschritt der Geschichte im Staate schwer errungene Frucht der
Civilisation. Lassen Sie uns das, meine Herren! an einem Beispiele betrachten.
Ans dem Urrecht ans die Freiheit soll folgen, daß die Sclaverei keine Geltung
habe. Und dennoch fand die Sclaverei bei den alten Griechen und Römern statt,
bei denen sie mit ihren besten Staatseinrichtungen zusammenhing, und sie findet
heut zu Tage noch statt, und die Sclaven bleiben, trotz ihres angeborenen Rechts
auf Freiheit, dennoch Sclaven.

Die richtige Ansicht ist diese. Die Sclaverei verstößt gegen kein angeborenes
Recht, weil alle Rechte im Staate erworben werden müssen. Wo sie vorhanden
ist, da ist sie ein Recht, und wird als Recht eben so gut geschützt, wie jedes
audere. Aber es widerstrebt unserm innersten Wesen, daß ein Mensch den an¬
dern wie eine Sache, wie ein begrenztes Stück Natur behandeln soll. Die Na¬
tur, die unentwickelte, rohe, menschliche Natur ließ die Sclaverei zu, aber die
Kunst, die Civilisation, hat sie verbannt!

Also, meine Herren! Es gibt kein unwandelbares festes Naturrecht! Es
gibt keine Urrechte! Es gibt nur Volksrechte! nur Rechte, die in der Geschichte
und in der lebendigen Gegenwart ihre Wurzeln haben. Die Quelle dieser Rechte
ist das Rechtsbewußtsein der Volksgenossen. Zu diesem Rechtsbewußtsein trägt
der Mensch mir den Keim in sich, ein Keim, der sich um so freier und reicher
entwickelt, je fruchtbarer der Acker des Staats ist, in welchen er gefallen.

Das Rechtsbewußtsein aber ist ein doppeltes. Es ist einmal die Kenntniß
der im Staate geltenden, die Gesellschaft zusammenhaltenden.Normen und Regeln,
wie sie dem Bürger inne wohnt. Diese Kenntniß strömt einem Jedem durch die
Erfahrungen, die er im Verkehr mit Einzelnen und mit dem Ganzen, dem Staate,
gemacht hat, durch Studium von Geschichte und Politik, durch Lektüre von Zei¬
tungen, durch die Berührung mit den Einrichtungen des Staats- und Gemein¬
delebens, unmittelbar gleich der Lebensluft die er einathmet, zu. Das Rechts-
bewußtsein bildet sich ähnlich der Sprache. Auch Jeder aus dem Volke, der die
Wissenschaft der Sprache, die Grammatik nicht dein Namen nach kennt, lernt sie
in all ihren reichen und künstlichen Wendungen im Allgemeinen richtig gebrauchen.

Und selbst da, wo die Hauptstützen eines gesunden und festen Rechtsbewußt¬
seins, öffentliche Institutionen und politische Freiheit gefehlt haben, ist der Um-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/72>, abgerufen am 23.12.2024.