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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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in Sachen des Geh. Obertribunals und der Oberlandesgerichte zu
Münster, Ratibor und Bromberg wider die Herren Waldeck, v. Kirch-
mann, Tennne und Gierke.



Bekanntlich gehörten die Verordnungen vom 29. März 1844 über das gerichtliche
und Disciplinarstrafverfahren gegen Beamte "ut das bei Pensionirungen zu beob¬
achtende Verfahren zu denjenigen Gesetzen, welche allgemein in der öffentlichen
Meinung Anstoß erregten. Sie vernichteten die Unabhängigkeit des Nichterstan-
des, welche bis dahin als eine Art Surrogat für eine freie Verfassung galt. Kaum
hatten daher die Märzereignisse stattgehabt, als die Verordnung vom 6. April
1848 über einige Grundlagen der künftigen preußischen Verfassung diese Gesetze in
Beziehung ausdem Richterstand außer Kraft setzte. Unsre neue Verfassungsurkunde vom
5. December garantirt gleichfalls im Art. 8K die Unabhängigkeit des Richterstandes,
und läßt Amtsentsetzung, Suspension, unfreiwillige Versetzung oder Pensionirung
nur durch Richterspruch eintreten. Verfassungsmäßig ist also den Richtern ihre
alte Unabhängigkeit wieder gegeben; aber schon erhebt sich aus der eignen Mitte
des Richterstandes ein neuer Feind wider dieselbe, ein Feind, eben so gefährlich,
als die Willkür des zu Grabe getragenen romantischen Staates: die Wuth politi¬
scher Verfolgungssucht. Wir haben hier die bekannten Demonstrationen des Ge¬
heimen Obertribunals und der Oberlandesgerichte zu Münster, Ratibor und Brom¬
berg gegen ihre Mitglieder und resp. Chefs, Waldeck, v. Kirchmann, Temme
und Gierke im Auge. Der Staatsanzeiger eröffnet seinen Lesern zugleich die
erfreuliche Aussicht, sie später wohl noch mit mehrern solchen Vorstellungen unter¬
halten zu können.

Wir sind eben kein Freund der seligen Nationalversammlung, wir mißbilligen
entschieden die Rolle, welche die Herren Waldeck und Temme als Volksvertreter
gespielt haben, wir stehen auch keineswegs auf der Höhe der politischen Ansichten
des Herrn v. Kirchmann, und halten den Steuerverweigerungsbeschluß, an welchem
alle vier Herren Theil genommen haben, weder aus gesetzlichen noch politischen
Gründen für gerechtfertigt. Trotzdem erachten wir diese auf die früheren Abgeord¬
neten gerichteten Angriffe für durchaus verwerflich, und rufen die öffentliche Mei¬
nung wider die vier hohen und höchsten Gerichtshöfe in die Schranken. Sollten
derartige Demonstrationen, welche einen traurigen Beweis dafür liefern, daß selbst
die obersten Schichten unsrer Gesellschaft noch weit davon entfernt sind, eine ver¬
nünftige Freiheit ertragen zu können -- den beabsichtigten Erfolg haben, dann
bleibt die Unabhängigkeit der Richter eine ganz illusorische. Neben dem Gesetze


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in Sachen des Geh. Obertribunals und der Oberlandesgerichte zu
Münster, Ratibor und Bromberg wider die Herren Waldeck, v. Kirch-
mann, Tennne und Gierke.



Bekanntlich gehörten die Verordnungen vom 29. März 1844 über das gerichtliche
und Disciplinarstrafverfahren gegen Beamte »ut das bei Pensionirungen zu beob¬
achtende Verfahren zu denjenigen Gesetzen, welche allgemein in der öffentlichen
Meinung Anstoß erregten. Sie vernichteten die Unabhängigkeit des Nichterstan-
des, welche bis dahin als eine Art Surrogat für eine freie Verfassung galt. Kaum
hatten daher die Märzereignisse stattgehabt, als die Verordnung vom 6. April
1848 über einige Grundlagen der künftigen preußischen Verfassung diese Gesetze in
Beziehung ausdem Richterstand außer Kraft setzte. Unsre neue Verfassungsurkunde vom
5. December garantirt gleichfalls im Art. 8K die Unabhängigkeit des Richterstandes,
und läßt Amtsentsetzung, Suspension, unfreiwillige Versetzung oder Pensionirung
nur durch Richterspruch eintreten. Verfassungsmäßig ist also den Richtern ihre
alte Unabhängigkeit wieder gegeben; aber schon erhebt sich aus der eignen Mitte
des Richterstandes ein neuer Feind wider dieselbe, ein Feind, eben so gefährlich,
als die Willkür des zu Grabe getragenen romantischen Staates: die Wuth politi¬
scher Verfolgungssucht. Wir haben hier die bekannten Demonstrationen des Ge¬
heimen Obertribunals und der Oberlandesgerichte zu Münster, Ratibor und Brom¬
berg gegen ihre Mitglieder und resp. Chefs, Waldeck, v. Kirchmann, Temme
und Gierke im Auge. Der Staatsanzeiger eröffnet seinen Lesern zugleich die
erfreuliche Aussicht, sie später wohl noch mit mehrern solchen Vorstellungen unter¬
halten zu können.

Wir sind eben kein Freund der seligen Nationalversammlung, wir mißbilligen
entschieden die Rolle, welche die Herren Waldeck und Temme als Volksvertreter
gespielt haben, wir stehen auch keineswegs auf der Höhe der politischen Ansichten
des Herrn v. Kirchmann, und halten den Steuerverweigerungsbeschluß, an welchem
alle vier Herren Theil genommen haben, weder aus gesetzlichen noch politischen
Gründen für gerechtfertigt. Trotzdem erachten wir diese auf die früheren Abgeord¬
neten gerichteten Angriffe für durchaus verwerflich, und rufen die öffentliche Mei¬
nung wider die vier hohen und höchsten Gerichtshöfe in die Schranken. Sollten
derartige Demonstrationen, welche einen traurigen Beweis dafür liefern, daß selbst
die obersten Schichten unsrer Gesellschaft noch weit davon entfernt sind, eine ver¬
nünftige Freiheit ertragen zu können — den beabsichtigten Erfolg haben, dann
bleibt die Unabhängigkeit der Richter eine ganz illusorische. Neben dem Gesetze


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/57>, abgerufen am 22.12.2024.