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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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von Vorstellungen ist, welche sich in Worten ausdrücken, wird am schnellsten
und Vollständigsten die neue Zeit in sich aufnehmen; sie hat von je die Führer¬
schaft der übrigen Künste gehabt. Unsere Lyrik hatte ausgeblüht, bevor die Re¬
volution einbrach, ihr letzter Gesang war politischer Zorn und rednerisches Pro¬
phezeien gewesen. Von einer Zeit, wo die Stimmungen und Launen des einzel¬
nen Menschen so wenig Wichtigkeit haben, wie in unserer, ist kein Gedeihn der
Liederknnst zu erwarten. Die Schwenkung, welche sie seit Lenau, Anastasius Grün
und Freiligrath nach dem Epos und der Novelle hin gemacht hatte, war ohne große
Resultate geblieben, sie kam nicht über das poetische Bild und Situationsschilde-
rungeu heraus, und konnte weder die Kraft epischer Ruhe, noch selbst die musi¬
kalische Innigkeit der Ballade gewinnen. ES ist jetzt zu viel Bilderstoff für die
Kunst gewonnen, als daß uns die Zukunft nicht auch Fortsetzungen dieser frü¬
heren Richtung bringen sollte. In dem Wesen der Zwitterart liegt aber nicht,
daß sie von Wichtigkeit für die Entwicklung der Poesie werden könnte. -- Dage¬
gen drängt die ganze Zeit mächtig zum Drama hin. Das Leben des Volkes ist
dramatisch geworden. Denn das Wesen des Dramas ist: Bewegungen der Seele
darzustellen, welche zu Handlungen treiben und Handlungen, welche auf den Thä¬
ter zurückwirke", sein Leben umwandeln und bis zu dem bestimmten Ziele fort¬
führen, wo die Bewegung des Kampfes aufhört, weil der Gegensatz zwischen dem
Einzelnen und der Macht der Ereignisse ausgeglichen ist. Unser Volk findet im
Drama jetzt ein Spiegelbild seiner eignen Kämpfe und der Schicksale seiner Helden.
Wenn der Feinfühlende, Gebildete in dem Streite der wirklichen Welt über das
Unabsehbare, Resultatlose und Verworrene betäubt und entmuthigt wird, und
wenn er beklagt, daß das Menschliche nur selten schön, edel und consequent durch¬
gesetzt wird, so muß ihm eine tiefe Sehnsucht kommen nach dem künstlerischen Ideal,
welches eine große Handlung in cousequenter Vollendung zeigt, in seinem Plan
und Detail vollständig zu übersehen ist, die Charaktere einfach und mächtig heraus¬
treibt und die Helden von den unzähligen hemmenden Einflüssen des wirklichen Lebens
befreit in reiner Größe zeichnen darf. Daher wird dasjenige Drama am meisten nach
dem Herzen der Zeit sein, welches in einsa6)er Schönheit große Interessen darstellt, die
von scharf charakterisirten Personen getragen werden. Unser Volk ist reif geworden für
die Tragödie, matte Sentimentalität hat keine Berichtigung mehr. LiebeSanek-
dvten des Familienlebens mit stereotypen Figuren werden als Futter unsrer zahllosen
Theaterabende immer geschrieben werden, sie können der Nation nicht mehr ge-
genügen. Wir brauchen eine große Handlung, starke Charaktere, um uns in der
Kunst geadelt wieder zu finden. Mit den Jntriguenstücken haben wir in der Po¬
litik und auf der Bühne gebrochen, die Wunderlichkeiten des Individuums sind
uns jetzt sehr wenig; auch das feine Detail und geistreiche Grazie werden nicht
mehr genügen, Erfolge zu bereiten. Die Proletarierstücke und die Dramen deS
socialen Elends, welche als starke Reizmittel in der schlaffen Vergangenheit ihre


von Vorstellungen ist, welche sich in Worten ausdrücken, wird am schnellsten
und Vollständigsten die neue Zeit in sich aufnehmen; sie hat von je die Führer¬
schaft der übrigen Künste gehabt. Unsere Lyrik hatte ausgeblüht, bevor die Re¬
volution einbrach, ihr letzter Gesang war politischer Zorn und rednerisches Pro¬
phezeien gewesen. Von einer Zeit, wo die Stimmungen und Launen des einzel¬
nen Menschen so wenig Wichtigkeit haben, wie in unserer, ist kein Gedeihn der
Liederknnst zu erwarten. Die Schwenkung, welche sie seit Lenau, Anastasius Grün
und Freiligrath nach dem Epos und der Novelle hin gemacht hatte, war ohne große
Resultate geblieben, sie kam nicht über das poetische Bild und Situationsschilde-
rungeu heraus, und konnte weder die Kraft epischer Ruhe, noch selbst die musi¬
kalische Innigkeit der Ballade gewinnen. ES ist jetzt zu viel Bilderstoff für die
Kunst gewonnen, als daß uns die Zukunft nicht auch Fortsetzungen dieser frü¬
heren Richtung bringen sollte. In dem Wesen der Zwitterart liegt aber nicht,
daß sie von Wichtigkeit für die Entwicklung der Poesie werden könnte. — Dage¬
gen drängt die ganze Zeit mächtig zum Drama hin. Das Leben des Volkes ist
dramatisch geworden. Denn das Wesen des Dramas ist: Bewegungen der Seele
darzustellen, welche zu Handlungen treiben und Handlungen, welche auf den Thä¬
ter zurückwirke», sein Leben umwandeln und bis zu dem bestimmten Ziele fort¬
führen, wo die Bewegung des Kampfes aufhört, weil der Gegensatz zwischen dem
Einzelnen und der Macht der Ereignisse ausgeglichen ist. Unser Volk findet im
Drama jetzt ein Spiegelbild seiner eignen Kämpfe und der Schicksale seiner Helden.
Wenn der Feinfühlende, Gebildete in dem Streite der wirklichen Welt über das
Unabsehbare, Resultatlose und Verworrene betäubt und entmuthigt wird, und
wenn er beklagt, daß das Menschliche nur selten schön, edel und consequent durch¬
gesetzt wird, so muß ihm eine tiefe Sehnsucht kommen nach dem künstlerischen Ideal,
welches eine große Handlung in cousequenter Vollendung zeigt, in seinem Plan
und Detail vollständig zu übersehen ist, die Charaktere einfach und mächtig heraus¬
treibt und die Helden von den unzähligen hemmenden Einflüssen des wirklichen Lebens
befreit in reiner Größe zeichnen darf. Daher wird dasjenige Drama am meisten nach
dem Herzen der Zeit sein, welches in einsa6)er Schönheit große Interessen darstellt, die
von scharf charakterisirten Personen getragen werden. Unser Volk ist reif geworden für
die Tragödie, matte Sentimentalität hat keine Berichtigung mehr. LiebeSanek-
dvten des Familienlebens mit stereotypen Figuren werden als Futter unsrer zahllosen
Theaterabende immer geschrieben werden, sie können der Nation nicht mehr ge-
genügen. Wir brauchen eine große Handlung, starke Charaktere, um uns in der
Kunst geadelt wieder zu finden. Mit den Jntriguenstücken haben wir in der Po¬
litik und auf der Bühne gebrochen, die Wunderlichkeiten des Individuums sind
uns jetzt sehr wenig; auch das feine Detail und geistreiche Grazie werden nicht
mehr genügen, Erfolge zu bereiten. Die Proletarierstücke und die Dramen deS
socialen Elends, welche als starke Reizmittel in der schlaffen Vergangenheit ihre


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[0426] von Vorstellungen ist, welche sich in Worten ausdrücken, wird am schnellsten und Vollständigsten die neue Zeit in sich aufnehmen; sie hat von je die Führer¬ schaft der übrigen Künste gehabt. Unsere Lyrik hatte ausgeblüht, bevor die Re¬ volution einbrach, ihr letzter Gesang war politischer Zorn und rednerisches Pro¬ phezeien gewesen. Von einer Zeit, wo die Stimmungen und Launen des einzel¬ nen Menschen so wenig Wichtigkeit haben, wie in unserer, ist kein Gedeihn der Liederknnst zu erwarten. Die Schwenkung, welche sie seit Lenau, Anastasius Grün und Freiligrath nach dem Epos und der Novelle hin gemacht hatte, war ohne große Resultate geblieben, sie kam nicht über das poetische Bild und Situationsschilde- rungeu heraus, und konnte weder die Kraft epischer Ruhe, noch selbst die musi¬ kalische Innigkeit der Ballade gewinnen. ES ist jetzt zu viel Bilderstoff für die Kunst gewonnen, als daß uns die Zukunft nicht auch Fortsetzungen dieser frü¬ heren Richtung bringen sollte. In dem Wesen der Zwitterart liegt aber nicht, daß sie von Wichtigkeit für die Entwicklung der Poesie werden könnte. — Dage¬ gen drängt die ganze Zeit mächtig zum Drama hin. Das Leben des Volkes ist dramatisch geworden. Denn das Wesen des Dramas ist: Bewegungen der Seele darzustellen, welche zu Handlungen treiben und Handlungen, welche auf den Thä¬ ter zurückwirke», sein Leben umwandeln und bis zu dem bestimmten Ziele fort¬ führen, wo die Bewegung des Kampfes aufhört, weil der Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Macht der Ereignisse ausgeglichen ist. Unser Volk findet im Drama jetzt ein Spiegelbild seiner eignen Kämpfe und der Schicksale seiner Helden. Wenn der Feinfühlende, Gebildete in dem Streite der wirklichen Welt über das Unabsehbare, Resultatlose und Verworrene betäubt und entmuthigt wird, und wenn er beklagt, daß das Menschliche nur selten schön, edel und consequent durch¬ gesetzt wird, so muß ihm eine tiefe Sehnsucht kommen nach dem künstlerischen Ideal, welches eine große Handlung in cousequenter Vollendung zeigt, in seinem Plan und Detail vollständig zu übersehen ist, die Charaktere einfach und mächtig heraus¬ treibt und die Helden von den unzähligen hemmenden Einflüssen des wirklichen Lebens befreit in reiner Größe zeichnen darf. Daher wird dasjenige Drama am meisten nach dem Herzen der Zeit sein, welches in einsa6)er Schönheit große Interessen darstellt, die von scharf charakterisirten Personen getragen werden. Unser Volk ist reif geworden für die Tragödie, matte Sentimentalität hat keine Berichtigung mehr. LiebeSanek- dvten des Familienlebens mit stereotypen Figuren werden als Futter unsrer zahllosen Theaterabende immer geschrieben werden, sie können der Nation nicht mehr ge- genügen. Wir brauchen eine große Handlung, starke Charaktere, um uns in der Kunst geadelt wieder zu finden. Mit den Jntriguenstücken haben wir in der Po¬ litik und auf der Bühne gebrochen, die Wunderlichkeiten des Individuums sind uns jetzt sehr wenig; auch das feine Detail und geistreiche Grazie werden nicht mehr genügen, Erfolge zu bereiten. Die Proletarierstücke und die Dramen deS socialen Elends, welche als starke Reizmittel in der schlaffen Vergangenheit ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/426>, abgerufen am 26.08.2024.