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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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ten eine Reform und machten eine Revolution: eine wahre Uebereilung und Über¬
raschung, wie alles dort seit sechzig Jahren in politischen Dingen. Der gute
Herr Odilon Barrot, dieser Hohepriester der Reform, so ruhig und selbstgefällig
saß er da bei seinen Festmahlen, so überaus zufrieden mit sich und seiner Umge¬
bung, lächelnd über das stanze Gesicht und, so ohne alle Ahnung der Dinge, die
da kommen sollten. Plötzlich gibt es hinter ihm etwas wie einen Fußtritt, er fliegt
vom Sessel auf den Boden, und drin sitzt zu Aller Schrecken urplötzlich statt sei¬
ner die Republik. Und nun zehn Monde verflossen, siehe da richtet er sich auf
vom jähen Fall, wischt sich den Staub vom Rock und Hut und die Angst vom
Antlitz-, und minute gemächlich seine vormalige Stellung wieder ein und seinen
frühern Sitz. War denn der ganze Vorgang ein Scherz? ein Traum? oder sind
in diesem Augenblick wir, die Zuschauer, in einen Traum befangen?

Du lieber Gott, es ist ja möglich, daß das Ganze nichts war, als ein
Mummenschanz, die Revolution nichts, als eine Uebereilung, ein Thun ohne
Sinn und Verstand; möglich, daß wirklich nichts weiter in Frage stand, als eine
Reform, und daß diese allgemeine Ueberstürzung von Fürsten und Völkern ein blos
Zufälliges war, ein Verschen, ein Mißverständnis;, ein Irrthum; aber von allen
Irrthümern wäre sicherlich der gröbste und gefährlichste zu glauben, daß dies
Alles zwecklos oder vergeblich geschehen und Alles wieder in's alte Gleis zu brin¬
gen sei: dergleichen Zufälligkeiten ereignen sich bei Völkern nicht nngcstvaft. Eine
alte Monarchie vernichtet, ein freisinniges und wohlerzogenes Fürstengeschlecht ver-
trieben, Zerrüttung über die bürgerliche Gesellschaft gekommen, die Welt bis in
ihre tiefsten Grundlagen hinab erschüttert: -- und das Alles aus bloßem Ver¬
sehen! ein Werk des Zufalls ohne Grund noch Zusammenhang! Wie, nichts wei¬
ter dies Alles als air,e Aufführung von Shakesspeare's "Komödie von den Irrun-
gen" und "Viel Lärmen um Nichts?" -- Ja, die alte StaatSkntsche ist nur ans
Versehen zu weit gefahren, über die richtige Hausnummer hinaus; uun wendet
sie um, und fährt zurück vor das Haus, wo sie halten sollte. Und die guten
Leute drinnen steigen aus, was weniges gerüttelt und incommodirt von den har¬
ten Stößen auf ungewohntem holpcrichtem Steinpflaster, und holen getrost ihr
altes Gepäck und allen Plunder hervor, auf den sie so großen Werth legen und
bilden sich ein, daß ihnen weiter nnn nichts obliege, als sich gemächlich wieder
eine alte Polterkammer zum Wohnsitz und Berather einzurichten wie zuvor. Wollte
der Himmel, dein wäre so! Aber namenloser Unsinn wäre es das zu glauben. Sind
doch die Franzosen nie anders gewesen: stets geht es mit ihnen von maßlosem
Verzweifeln zu übermäßiger Zuversicht. Am Tage, da die Revolution über sie
ausbrach, verlor die Bourgeoisie den Kopf und glaubte, nun sei Alles aus; und
nun die Revolution augenblicklich besiegt ist, glaubt sie Alles beseitigt, Alles ge¬
wonnen zu haben, und auf dem beliebten Gaul des Herkommens, wieder den allen
gewohnten Trab weiter reiten zu dürfen. Doch stellen sich hier Betrachtungen


ten eine Reform und machten eine Revolution: eine wahre Uebereilung und Über¬
raschung, wie alles dort seit sechzig Jahren in politischen Dingen. Der gute
Herr Odilon Barrot, dieser Hohepriester der Reform, so ruhig und selbstgefällig
saß er da bei seinen Festmahlen, so überaus zufrieden mit sich und seiner Umge¬
bung, lächelnd über das stanze Gesicht und, so ohne alle Ahnung der Dinge, die
da kommen sollten. Plötzlich gibt es hinter ihm etwas wie einen Fußtritt, er fliegt
vom Sessel auf den Boden, und drin sitzt zu Aller Schrecken urplötzlich statt sei¬
ner die Republik. Und nun zehn Monde verflossen, siehe da richtet er sich auf
vom jähen Fall, wischt sich den Staub vom Rock und Hut und die Angst vom
Antlitz-, und minute gemächlich seine vormalige Stellung wieder ein und seinen
frühern Sitz. War denn der ganze Vorgang ein Scherz? ein Traum? oder sind
in diesem Augenblick wir, die Zuschauer, in einen Traum befangen?

Du lieber Gott, es ist ja möglich, daß das Ganze nichts war, als ein
Mummenschanz, die Revolution nichts, als eine Uebereilung, ein Thun ohne
Sinn und Verstand; möglich, daß wirklich nichts weiter in Frage stand, als eine
Reform, und daß diese allgemeine Ueberstürzung von Fürsten und Völkern ein blos
Zufälliges war, ein Verschen, ein Mißverständnis;, ein Irrthum; aber von allen
Irrthümern wäre sicherlich der gröbste und gefährlichste zu glauben, daß dies
Alles zwecklos oder vergeblich geschehen und Alles wieder in's alte Gleis zu brin¬
gen sei: dergleichen Zufälligkeiten ereignen sich bei Völkern nicht nngcstvaft. Eine
alte Monarchie vernichtet, ein freisinniges und wohlerzogenes Fürstengeschlecht ver-
trieben, Zerrüttung über die bürgerliche Gesellschaft gekommen, die Welt bis in
ihre tiefsten Grundlagen hinab erschüttert: — und das Alles aus bloßem Ver¬
sehen! ein Werk des Zufalls ohne Grund noch Zusammenhang! Wie, nichts wei¬
ter dies Alles als air,e Aufführung von Shakesspeare's „Komödie von den Irrun-
gen" und „Viel Lärmen um Nichts?" — Ja, die alte StaatSkntsche ist nur ans
Versehen zu weit gefahren, über die richtige Hausnummer hinaus; uun wendet
sie um, und fährt zurück vor das Haus, wo sie halten sollte. Und die guten
Leute drinnen steigen aus, was weniges gerüttelt und incommodirt von den har¬
ten Stößen auf ungewohntem holpcrichtem Steinpflaster, und holen getrost ihr
altes Gepäck und allen Plunder hervor, auf den sie so großen Werth legen und
bilden sich ein, daß ihnen weiter nnn nichts obliege, als sich gemächlich wieder
eine alte Polterkammer zum Wohnsitz und Berather einzurichten wie zuvor. Wollte
der Himmel, dein wäre so! Aber namenloser Unsinn wäre es das zu glauben. Sind
doch die Franzosen nie anders gewesen: stets geht es mit ihnen von maßlosem
Verzweifeln zu übermäßiger Zuversicht. Am Tage, da die Revolution über sie
ausbrach, verlor die Bourgeoisie den Kopf und glaubte, nun sei Alles aus; und
nun die Revolution augenblicklich besiegt ist, glaubt sie Alles beseitigt, Alles ge¬
wonnen zu haben, und auf dem beliebten Gaul des Herkommens, wieder den allen
gewohnten Trab weiter reiten zu dürfen. Doch stellen sich hier Betrachtungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/405>, abgerufen am 23.07.2024.