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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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geschehn ist, und warum es nicht geschehen, hat uns unsre realistische Gesinnung
sehr erschwert. Die Gefahr war groß, auch die besten Patrioten zweifelten an
der fernern Lebensfähigkeit des Staats. Aber die Erinnerung an Friedrich den
Großen war noch nicht verloren, noch nicht erloschen der Stern der Hohenzollern.
Preußen hat sich wieder gefunden -- schon die Wahlen sind eine Bürgschaft da¬
für; und in dem freien Staat wird die alte sittliche Gesinnung wieder geboren
werden, auf die allein das Deutschland der Zukunft sich gründen darf, und die
uns berechtigt, mit Kleist und den Kriegern des großen Kurfürsten auszurufen:

In Staub mit allen Feinden Brandenburg's!


2.
Minna von Barnhelm.

Wieder ein Soldatenstück! und zwar diesmal aus der legitimen Zopfzeit. Ein
Wachtmeister, der in der Rührung seines Herzens den geliebten Major bittet, ihm
doch hundert Fuchteln geben zu lassen, aber dann ihm wieder gut zu sein; ein Be¬
dienter, der seine Treue mit der eines Hundes vergleicht, der trotz aller Fußstöße
und sonstigen unfreundlichen Behandlung dem Herrn nachgeht. So empfinden
wir nicht mehr, und das ist auch gut. Das Hundewcsen mußte aus den mensch¬
lich sittlichen Verhältnissen entfernt werden, wie viel naturwüchsige Gemüthlichkeit
sich auch dahinter verstecken mochte.

Die Pointe des Stücks ist, wie in der Emilia Galotti, der kategorische Im¬
perativ der Pflicht: das Gebot der Tugend, welches mit dem Herzen in Wider¬
spruch steht. Lessing hat sich mit der Kantischen Philosophie nicht viel abgegeben,
aber die innere, unvermittelte Uebereinstimmung des Dichters mit dem Philosophen
verräth die naturgemäße Bildung ihrer Probleme. Das geistige Recht des Gu¬
ten ist ein fremdartiges, gespenstisches, das der menschlichen Natur nicht imma¬
nent ist, sondern ihr äußerlich aufgedrungen werden muß. Im Soldatenstand
nimmt diese eiserne Regel die bestimmtere Form der Ehre an. Was ist Ehre?
fragt Minna von Barnhelm ihren Geliebten, wie Falstaff sich selber. Er weiß
ihr keine andere Antwort zu geben, als daß Frauen nichts davon verstehen. Die
Ehre gebietet ihm, in beschränkten Verhältnissen die Hand eines reichen Mäd¬
chens, mit dem er lange versprochen war, auszuschlagen; das Darlehn eines Freun¬
des trotz der äußersten Noth zurückzuweisen. Man könnte sonst sagen, daß er
aus Habsucht Heirathe. Wie löst sich der Conflict? Durch Ueberlistnng; man
redet ihm ein, daß seine Geliebte verarmt sei, und nun geht die Reihe der Ent¬
schließungen in der gebührenden dialektischen Nothwendigkeit bis zur erwünschten
Hochzeit.


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geschehn ist, und warum es nicht geschehen, hat uns unsre realistische Gesinnung
sehr erschwert. Die Gefahr war groß, auch die besten Patrioten zweifelten an
der fernern Lebensfähigkeit des Staats. Aber die Erinnerung an Friedrich den
Großen war noch nicht verloren, noch nicht erloschen der Stern der Hohenzollern.
Preußen hat sich wieder gefunden — schon die Wahlen sind eine Bürgschaft da¬
für; und in dem freien Staat wird die alte sittliche Gesinnung wieder geboren
werden, auf die allein das Deutschland der Zukunft sich gründen darf, und die
uns berechtigt, mit Kleist und den Kriegern des großen Kurfürsten auszurufen:

In Staub mit allen Feinden Brandenburg's!


2.
Minna von Barnhelm.

Wieder ein Soldatenstück! und zwar diesmal aus der legitimen Zopfzeit. Ein
Wachtmeister, der in der Rührung seines Herzens den geliebten Major bittet, ihm
doch hundert Fuchteln geben zu lassen, aber dann ihm wieder gut zu sein; ein Be¬
dienter, der seine Treue mit der eines Hundes vergleicht, der trotz aller Fußstöße
und sonstigen unfreundlichen Behandlung dem Herrn nachgeht. So empfinden
wir nicht mehr, und das ist auch gut. Das Hundewcsen mußte aus den mensch¬
lich sittlichen Verhältnissen entfernt werden, wie viel naturwüchsige Gemüthlichkeit
sich auch dahinter verstecken mochte.

Die Pointe des Stücks ist, wie in der Emilia Galotti, der kategorische Im¬
perativ der Pflicht: das Gebot der Tugend, welches mit dem Herzen in Wider¬
spruch steht. Lessing hat sich mit der Kantischen Philosophie nicht viel abgegeben,
aber die innere, unvermittelte Uebereinstimmung des Dichters mit dem Philosophen
verräth die naturgemäße Bildung ihrer Probleme. Das geistige Recht des Gu¬
ten ist ein fremdartiges, gespenstisches, das der menschlichen Natur nicht imma¬
nent ist, sondern ihr äußerlich aufgedrungen werden muß. Im Soldatenstand
nimmt diese eiserne Regel die bestimmtere Form der Ehre an. Was ist Ehre?
fragt Minna von Barnhelm ihren Geliebten, wie Falstaff sich selber. Er weiß
ihr keine andere Antwort zu geben, als daß Frauen nichts davon verstehen. Die
Ehre gebietet ihm, in beschränkten Verhältnissen die Hand eines reichen Mäd¬
chens, mit dem er lange versprochen war, auszuschlagen; das Darlehn eines Freun¬
des trotz der äußersten Noth zurückzuweisen. Man könnte sonst sagen, daß er
aus Habsucht Heirathe. Wie löst sich der Conflict? Durch Ueberlistnng; man
redet ihm ein, daß seine Geliebte verarmt sei, und nun geht die Reihe der Ent¬
schließungen in der gebührenden dialektischen Nothwendigkeit bis zur erwünschten
Hochzeit.


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[0353] geschehn ist, und warum es nicht geschehen, hat uns unsre realistische Gesinnung sehr erschwert. Die Gefahr war groß, auch die besten Patrioten zweifelten an der fernern Lebensfähigkeit des Staats. Aber die Erinnerung an Friedrich den Großen war noch nicht verloren, noch nicht erloschen der Stern der Hohenzollern. Preußen hat sich wieder gefunden — schon die Wahlen sind eine Bürgschaft da¬ für; und in dem freien Staat wird die alte sittliche Gesinnung wieder geboren werden, auf die allein das Deutschland der Zukunft sich gründen darf, und die uns berechtigt, mit Kleist und den Kriegern des großen Kurfürsten auszurufen: In Staub mit allen Feinden Brandenburg's! 2. Minna von Barnhelm. Wieder ein Soldatenstück! und zwar diesmal aus der legitimen Zopfzeit. Ein Wachtmeister, der in der Rührung seines Herzens den geliebten Major bittet, ihm doch hundert Fuchteln geben zu lassen, aber dann ihm wieder gut zu sein; ein Be¬ dienter, der seine Treue mit der eines Hundes vergleicht, der trotz aller Fußstöße und sonstigen unfreundlichen Behandlung dem Herrn nachgeht. So empfinden wir nicht mehr, und das ist auch gut. Das Hundewcsen mußte aus den mensch¬ lich sittlichen Verhältnissen entfernt werden, wie viel naturwüchsige Gemüthlichkeit sich auch dahinter verstecken mochte. Die Pointe des Stücks ist, wie in der Emilia Galotti, der kategorische Im¬ perativ der Pflicht: das Gebot der Tugend, welches mit dem Herzen in Wider¬ spruch steht. Lessing hat sich mit der Kantischen Philosophie nicht viel abgegeben, aber die innere, unvermittelte Uebereinstimmung des Dichters mit dem Philosophen verräth die naturgemäße Bildung ihrer Probleme. Das geistige Recht des Gu¬ ten ist ein fremdartiges, gespenstisches, das der menschlichen Natur nicht imma¬ nent ist, sondern ihr äußerlich aufgedrungen werden muß. Im Soldatenstand nimmt diese eiserne Regel die bestimmtere Form der Ehre an. Was ist Ehre? fragt Minna von Barnhelm ihren Geliebten, wie Falstaff sich selber. Er weiß ihr keine andere Antwort zu geben, als daß Frauen nichts davon verstehen. Die Ehre gebietet ihm, in beschränkten Verhältnissen die Hand eines reichen Mäd¬ chens, mit dem er lange versprochen war, auszuschlagen; das Darlehn eines Freun¬ des trotz der äußersten Noth zurückzuweisen. Man könnte sonst sagen, daß er aus Habsucht Heirathe. Wie löst sich der Conflict? Durch Ueberlistnng; man redet ihm ein, daß seine Geliebte verarmt sei, und nun geht die Reihe der Ent¬ schließungen in der gebührenden dialektischen Nothwendigkeit bis zur erwünschten Hochzeit. ««»Ma. l. I»<9.44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/353>, abgerufen am 22.12.2024.