Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

-- sie malen eine Gesellschaft, die ans lauter Schurken zusammengesetzt ist, und
mit einer Unbefangenheit, als müßte es so sei". Nur in einer so verruchten
Weltlichkeit -- denn so erdichtet jene Erzählungen immer sind, sie ruhen ans einem
sehr realen Boden -- läßt sich das entgegengesetzte Extrem der Bigotterie begrei¬
fen, die gänzlich aus der Welt flicht, sobald die einzige Flamme, die dem dun¬
keln Herzen leuchtete, die Leidenschaft erstickt ist. Jene mysteriöse Gesellschaft der
13, die zu dem ausgesprochenen Zweck zusammengetreten ist, um den Kelch aller
Leidenschaften bis zum Grunde zu leeren, alles sinnliche Raffinement der Lust, der
Bosheit und des Verbrechens zu erschöpfen, was nnr das Raffinement eines bla-
sirten aber unternehmenden Geistes zu ersinnen vermag -- sie erscheint in gewis¬
sem Sinn noch moralisch neben jenen Nastaignac, den Töchtern Goriots und der
ganzen übrigen Gesellschaft, der nur die Kraft der Verworfenheit fehlt.

Ein ödes, hohles Leben! ohne Glauben, ohne eigentliche Liebe; nur wenn eine
wilde Leidenschaft es ergreift, glüht es höher auf, aber in der trüben Nöthe eines
Vulkans, und verzehrend wie seine Lava. Ein wüster Rausch! ein wilder Wechsel
der verschiedenartigsten, aber immer häßlichen Aufregungen, und eine Frivolität,
welche die Verachtung alles übrigen erträglich macht, indem sie sich selbst verachtet.
Eins unterscheidet den modernen Schwelger von dem altrömischen, ganz von Gott
verlassenen: die Form; selbst die Unsittlichkeit hat ihre Convenienz, und so leicht
es der Held mit der ordinären bürgerlichen Moral nimmt, so genau kennt er sein
Stichwort, wenn es die idealisirte Selbstsucht gilt. Ja das ist noch höchst auf¬
gebracht, wenn das Opfer sich nicht unbedingt hingibt, und wenn es dann um¬
gebracht wird, so heißt es: das ist kein Mord, sondern eine Hinrichtung. Der
Vater führt seinen zwölfjährigen Sohn in den Cirkel der Wüstlinge, nnter Tän¬
zerinnen und was sich daran weiter knüpft; sie treiben es mit einander als gute
Freunde, bis der junge zwanzigjährige bi-tho an der Schwindsucht oder einem Duell
erliegt. Alles auf eine Karte! Die Gesellschaft hat viel intensiverer Stoff der
Leidenschaft, der Emotion, als der Staat; Börsenschwindcl, Spiel, Wollust, in
ihnen lebt sich's rasch, vulkanisch, man sühlt das strömende, das stockende Blut;
wenn man sich mit Politik beschäftigt, so ist es für die Spalten des Journal
des Debats, im Kreise jener Beauvallon, Equevillcy, jener Ganner von großem
Talent, welche die schöne Lota umschwärmen, während sie zugleich einen Artikel
gegen die unsittlichen Neuerer aus dem Volke improvisiren. Ein Girardin, das un¬
sittlichste Subject der hohen Gesellschaft, der Anwalt des Nechtsprincips! Und dazu
täglich das Schauspiel der öffentlichen Gerichtssitzung, in denen man Giftmischerei,
Vatermord und was man sonst in Romanen schaudernd nachempfindet, in unmit¬
telbarer Wirklichkeit genießen kann; mit allem Aufwand theatralischer Ausstattung,
rührende Reden, schwarze Roben, welche die feinen Glieder der liebenswürdigen
Giftmischerin sittsam umschließen; das Interesse gesteigert durch die immer mehr
in die Arena des Verbrechens niedersteigenden hohen Stände; dem gemeinen Volk


— sie malen eine Gesellschaft, die ans lauter Schurken zusammengesetzt ist, und
mit einer Unbefangenheit, als müßte es so sei». Nur in einer so verruchten
Weltlichkeit — denn so erdichtet jene Erzählungen immer sind, sie ruhen ans einem
sehr realen Boden — läßt sich das entgegengesetzte Extrem der Bigotterie begrei¬
fen, die gänzlich aus der Welt flicht, sobald die einzige Flamme, die dem dun¬
keln Herzen leuchtete, die Leidenschaft erstickt ist. Jene mysteriöse Gesellschaft der
13, die zu dem ausgesprochenen Zweck zusammengetreten ist, um den Kelch aller
Leidenschaften bis zum Grunde zu leeren, alles sinnliche Raffinement der Lust, der
Bosheit und des Verbrechens zu erschöpfen, was nnr das Raffinement eines bla-
sirten aber unternehmenden Geistes zu ersinnen vermag — sie erscheint in gewis¬
sem Sinn noch moralisch neben jenen Nastaignac, den Töchtern Goriots und der
ganzen übrigen Gesellschaft, der nur die Kraft der Verworfenheit fehlt.

Ein ödes, hohles Leben! ohne Glauben, ohne eigentliche Liebe; nur wenn eine
wilde Leidenschaft es ergreift, glüht es höher auf, aber in der trüben Nöthe eines
Vulkans, und verzehrend wie seine Lava. Ein wüster Rausch! ein wilder Wechsel
der verschiedenartigsten, aber immer häßlichen Aufregungen, und eine Frivolität,
welche die Verachtung alles übrigen erträglich macht, indem sie sich selbst verachtet.
Eins unterscheidet den modernen Schwelger von dem altrömischen, ganz von Gott
verlassenen: die Form; selbst die Unsittlichkeit hat ihre Convenienz, und so leicht
es der Held mit der ordinären bürgerlichen Moral nimmt, so genau kennt er sein
Stichwort, wenn es die idealisirte Selbstsucht gilt. Ja das ist noch höchst auf¬
gebracht, wenn das Opfer sich nicht unbedingt hingibt, und wenn es dann um¬
gebracht wird, so heißt es: das ist kein Mord, sondern eine Hinrichtung. Der
Vater führt seinen zwölfjährigen Sohn in den Cirkel der Wüstlinge, nnter Tän¬
zerinnen und was sich daran weiter knüpft; sie treiben es mit einander als gute
Freunde, bis der junge zwanzigjährige bi-tho an der Schwindsucht oder einem Duell
erliegt. Alles auf eine Karte! Die Gesellschaft hat viel intensiverer Stoff der
Leidenschaft, der Emotion, als der Staat; Börsenschwindcl, Spiel, Wollust, in
ihnen lebt sich's rasch, vulkanisch, man sühlt das strömende, das stockende Blut;
wenn man sich mit Politik beschäftigt, so ist es für die Spalten des Journal
des Debats, im Kreise jener Beauvallon, Equevillcy, jener Ganner von großem
Talent, welche die schöne Lota umschwärmen, während sie zugleich einen Artikel
gegen die unsittlichen Neuerer aus dem Volke improvisiren. Ein Girardin, das un¬
sittlichste Subject der hohen Gesellschaft, der Anwalt des Nechtsprincips! Und dazu
täglich das Schauspiel der öffentlichen Gerichtssitzung, in denen man Giftmischerei,
Vatermord und was man sonst in Romanen schaudernd nachempfindet, in unmit¬
telbarer Wirklichkeit genießen kann; mit allem Aufwand theatralischer Ausstattung,
rührende Reden, schwarze Roben, welche die feinen Glieder der liebenswürdigen
Giftmischerin sittsam umschließen; das Interesse gesteigert durch die immer mehr
in die Arena des Verbrechens niedersteigenden hohen Stände; dem gemeinen Volk


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278014"/>
            <p xml:id="ID_68" prev="#ID_67"> &#x2014; sie malen eine Gesellschaft, die ans lauter Schurken zusammengesetzt ist, und<lb/>
mit einer Unbefangenheit, als müßte es so sei». Nur in einer so verruchten<lb/>
Weltlichkeit &#x2014; denn so erdichtet jene Erzählungen immer sind, sie ruhen ans einem<lb/>
sehr realen Boden &#x2014; läßt sich das entgegengesetzte Extrem der Bigotterie begrei¬<lb/>
fen, die gänzlich aus der Welt flicht, sobald die einzige Flamme, die dem dun¬<lb/>
keln Herzen leuchtete, die Leidenschaft erstickt ist. Jene mysteriöse Gesellschaft der<lb/>
13, die zu dem ausgesprochenen Zweck zusammengetreten ist, um den Kelch aller<lb/>
Leidenschaften bis zum Grunde zu leeren, alles sinnliche Raffinement der Lust, der<lb/>
Bosheit und des Verbrechens zu erschöpfen, was nnr das Raffinement eines bla-<lb/>
sirten aber unternehmenden Geistes zu ersinnen vermag &#x2014; sie erscheint in gewis¬<lb/>
sem Sinn noch moralisch neben jenen Nastaignac, den Töchtern Goriots und der<lb/>
ganzen übrigen Gesellschaft, der nur die Kraft der Verworfenheit fehlt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_69" next="#ID_70"> Ein ödes, hohles Leben! ohne Glauben, ohne eigentliche Liebe; nur wenn eine<lb/>
wilde Leidenschaft es ergreift, glüht es höher auf, aber in der trüben Nöthe eines<lb/>
Vulkans, und verzehrend wie seine Lava. Ein wüster Rausch! ein wilder Wechsel<lb/>
der verschiedenartigsten, aber immer häßlichen Aufregungen, und eine Frivolität,<lb/>
welche die Verachtung alles übrigen erträglich macht, indem sie sich selbst verachtet.<lb/>
Eins unterscheidet den modernen Schwelger von dem altrömischen, ganz von Gott<lb/>
verlassenen: die Form; selbst die Unsittlichkeit hat ihre Convenienz, und so leicht<lb/>
es der Held mit der ordinären bürgerlichen Moral nimmt, so genau kennt er sein<lb/>
Stichwort, wenn es die idealisirte Selbstsucht gilt. Ja das ist noch höchst auf¬<lb/>
gebracht, wenn das Opfer sich nicht unbedingt hingibt, und wenn es dann um¬<lb/>
gebracht wird, so heißt es: das ist kein Mord, sondern eine Hinrichtung. Der<lb/>
Vater führt seinen zwölfjährigen Sohn in den Cirkel der Wüstlinge, nnter Tän¬<lb/>
zerinnen und was sich daran weiter knüpft; sie treiben es mit einander als gute<lb/>
Freunde, bis der junge zwanzigjährige bi-tho an der Schwindsucht oder einem Duell<lb/>
erliegt. Alles auf eine Karte! Die Gesellschaft hat viel intensiverer Stoff der<lb/>
Leidenschaft, der Emotion, als der Staat; Börsenschwindcl, Spiel, Wollust, in<lb/>
ihnen lebt sich's rasch, vulkanisch, man sühlt das strömende, das stockende Blut;<lb/>
wenn man sich mit Politik beschäftigt, so ist es für die Spalten des Journal<lb/>
des Debats, im Kreise jener Beauvallon, Equevillcy, jener Ganner von großem<lb/>
Talent, welche die schöne Lota umschwärmen, während sie zugleich einen Artikel<lb/>
gegen die unsittlichen Neuerer aus dem Volke improvisiren. Ein Girardin, das un¬<lb/>
sittlichste Subject der hohen Gesellschaft, der Anwalt des Nechtsprincips! Und dazu<lb/>
täglich das Schauspiel der öffentlichen Gerichtssitzung, in denen man Giftmischerei,<lb/>
Vatermord und was man sonst in Romanen schaudernd nachempfindet, in unmit¬<lb/>
telbarer Wirklichkeit genießen kann; mit allem Aufwand theatralischer Ausstattung,<lb/>
rührende Reden, schwarze Roben, welche die feinen Glieder der liebenswürdigen<lb/>
Giftmischerin sittsam umschließen; das Interesse gesteigert durch die immer mehr<lb/>
in die Arena des Verbrechens niedersteigenden hohen Stände; dem gemeinen Volk</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] — sie malen eine Gesellschaft, die ans lauter Schurken zusammengesetzt ist, und mit einer Unbefangenheit, als müßte es so sei». Nur in einer so verruchten Weltlichkeit — denn so erdichtet jene Erzählungen immer sind, sie ruhen ans einem sehr realen Boden — läßt sich das entgegengesetzte Extrem der Bigotterie begrei¬ fen, die gänzlich aus der Welt flicht, sobald die einzige Flamme, die dem dun¬ keln Herzen leuchtete, die Leidenschaft erstickt ist. Jene mysteriöse Gesellschaft der 13, die zu dem ausgesprochenen Zweck zusammengetreten ist, um den Kelch aller Leidenschaften bis zum Grunde zu leeren, alles sinnliche Raffinement der Lust, der Bosheit und des Verbrechens zu erschöpfen, was nnr das Raffinement eines bla- sirten aber unternehmenden Geistes zu ersinnen vermag — sie erscheint in gewis¬ sem Sinn noch moralisch neben jenen Nastaignac, den Töchtern Goriots und der ganzen übrigen Gesellschaft, der nur die Kraft der Verworfenheit fehlt. Ein ödes, hohles Leben! ohne Glauben, ohne eigentliche Liebe; nur wenn eine wilde Leidenschaft es ergreift, glüht es höher auf, aber in der trüben Nöthe eines Vulkans, und verzehrend wie seine Lava. Ein wüster Rausch! ein wilder Wechsel der verschiedenartigsten, aber immer häßlichen Aufregungen, und eine Frivolität, welche die Verachtung alles übrigen erträglich macht, indem sie sich selbst verachtet. Eins unterscheidet den modernen Schwelger von dem altrömischen, ganz von Gott verlassenen: die Form; selbst die Unsittlichkeit hat ihre Convenienz, und so leicht es der Held mit der ordinären bürgerlichen Moral nimmt, so genau kennt er sein Stichwort, wenn es die idealisirte Selbstsucht gilt. Ja das ist noch höchst auf¬ gebracht, wenn das Opfer sich nicht unbedingt hingibt, und wenn es dann um¬ gebracht wird, so heißt es: das ist kein Mord, sondern eine Hinrichtung. Der Vater führt seinen zwölfjährigen Sohn in den Cirkel der Wüstlinge, nnter Tän¬ zerinnen und was sich daran weiter knüpft; sie treiben es mit einander als gute Freunde, bis der junge zwanzigjährige bi-tho an der Schwindsucht oder einem Duell erliegt. Alles auf eine Karte! Die Gesellschaft hat viel intensiverer Stoff der Leidenschaft, der Emotion, als der Staat; Börsenschwindcl, Spiel, Wollust, in ihnen lebt sich's rasch, vulkanisch, man sühlt das strömende, das stockende Blut; wenn man sich mit Politik beschäftigt, so ist es für die Spalten des Journal des Debats, im Kreise jener Beauvallon, Equevillcy, jener Ganner von großem Talent, welche die schöne Lota umschwärmen, während sie zugleich einen Artikel gegen die unsittlichen Neuerer aus dem Volke improvisiren. Ein Girardin, das un¬ sittlichste Subject der hohen Gesellschaft, der Anwalt des Nechtsprincips! Und dazu täglich das Schauspiel der öffentlichen Gerichtssitzung, in denen man Giftmischerei, Vatermord und was man sonst in Romanen schaudernd nachempfindet, in unmit¬ telbarer Wirklichkeit genießen kann; mit allem Aufwand theatralischer Ausstattung, rührende Reden, schwarze Roben, welche die feinen Glieder der liebenswürdigen Giftmischerin sittsam umschließen; das Interesse gesteigert durch die immer mehr in die Arena des Verbrechens niedersteigenden hohen Stände; dem gemeinen Volk

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/26
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/26>, abgerufen am 23.12.2024.