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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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befinden, vom Gesichtspunkt eines besonnenen Mannes, dem freilich Vieles verwunderlich
vorkommen muß. Eine Skizze vom Leben des angeblichen Ludwig XVII., des Uhr"
nacher Naundorf, bildet eine interessante Episode. -- Die "Belehrungen und Erläu¬
terungen" sind sehr beherzigenswert!), weil sie überall auf das bestimmte, praktische Be¬
dürfniß hindeuten, und populär im bessern Sinne sind, sie schmeicheln nicht dem Volk,
sie gehn nicht ans die Phrasen ein, die unsere Demagogen ihm geläufig gemacht ha¬
ben, sondern aus seine factischen Zustände; sie machen den richtigen Weg vom Beson¬
dern zum Allgemeinen.

11) Graf Castel Melhor oder das letzte Gefühl. Trauerspiel, Berlin,
Haym.

12) Gesammelte dramatische Werke von Deinhardstein. 3 Bd. Leipzig,
I. I. Weber.

13) Kyneburga oder das Kloster in Irland, romantisches Drama von Edmund
Lobedanz. Des Bildschnitzers Tochter. Deutsches Volksdrama von
Edmund Lobedanz. Kiel, Naeck.

Im ersten Drama haben wir das Werk eines gebildeten und verständigen Man¬
nes, dem aber Poesie ebenso abgeht als Bühnenkenntniß.' Das Drama -- in
shakespearischer Mischung von Jamben und Prosa, höfischer und Volkssprache -- dehnt
sich daher auf 192 sehr starke Octavseiten aus. -- Die Schauspiele von Deinhardstein
sind Bühnenstücke; wir haben in Leipzig selber einige gesehen. Ein Fortschritt in der
dramatischen Kunst ist in ihnen nicht wahrzunehmen, anch nicht ein höherer Standpunkt
der Bildung, dem Kotzebue-Ifflandschen Zeitalter gegenüber. -- Die beiden Dramen
des Kieler Poeten gehören dem Nachwuchs der romantischen Schule an, sie schlachten
nach Müllner, Houwald und haben einen gewissen sentimentalen Zug nach Dänemark
hin. Doch ist es bekehrte Romantik; der Gedanke der Humanität läßt das frivol-
geniale Geister - und Küustlerwcsen der eigentlichen Schule nicht aufkommen. Ein bö¬
ser Edelmann wird bekehrt; der Bekehrer sagt zu ihm:


Du findest Heil und Ruh' in der Entsagung,

Sie gibt des Herzens Friede dir zurück.

^
Worauf der bekehrte Edelmann erwidert:


Nun, so entsag' ich denn dem falschen Ich,

Ich streife ab das alte morsche Kleid,

Zieh' an in Gottes Angesicht el" neues.

Ich steh nicht mehr der Menschheit gegenüber,
''

Ich steh in ihr und geb für sie mein Blut.


Worauf ihm replicirt wird:


Und nun gehörst du selbst dir wieder an,

Denn wer die Menschheit liebt, der liebt sich selbst,


Und wer sie haßt, der haßt sich selbst in ihr.

, '




Verlag von F. L. Hcrbig. -- Redacteure: Gustav Freytag und Julian Schmidt.
Druck von Friedrich AndrS.

befinden, vom Gesichtspunkt eines besonnenen Mannes, dem freilich Vieles verwunderlich
vorkommen muß. Eine Skizze vom Leben des angeblichen Ludwig XVII., des Uhr»
nacher Naundorf, bildet eine interessante Episode. — Die „Belehrungen und Erläu¬
terungen" sind sehr beherzigenswert!), weil sie überall auf das bestimmte, praktische Be¬
dürfniß hindeuten, und populär im bessern Sinne sind, sie schmeicheln nicht dem Volk,
sie gehn nicht ans die Phrasen ein, die unsere Demagogen ihm geläufig gemacht ha¬
ben, sondern aus seine factischen Zustände; sie machen den richtigen Weg vom Beson¬
dern zum Allgemeinen.

11) Graf Castel Melhor oder das letzte Gefühl. Trauerspiel, Berlin,
Haym.

12) Gesammelte dramatische Werke von Deinhardstein. 3 Bd. Leipzig,
I. I. Weber.

13) Kyneburga oder das Kloster in Irland, romantisches Drama von Edmund
Lobedanz. Des Bildschnitzers Tochter. Deutsches Volksdrama von
Edmund Lobedanz. Kiel, Naeck.

Im ersten Drama haben wir das Werk eines gebildeten und verständigen Man¬
nes, dem aber Poesie ebenso abgeht als Bühnenkenntniß.' Das Drama — in
shakespearischer Mischung von Jamben und Prosa, höfischer und Volkssprache — dehnt
sich daher auf 192 sehr starke Octavseiten aus. — Die Schauspiele von Deinhardstein
sind Bühnenstücke; wir haben in Leipzig selber einige gesehen. Ein Fortschritt in der
dramatischen Kunst ist in ihnen nicht wahrzunehmen, anch nicht ein höherer Standpunkt
der Bildung, dem Kotzebue-Ifflandschen Zeitalter gegenüber. — Die beiden Dramen
des Kieler Poeten gehören dem Nachwuchs der romantischen Schule an, sie schlachten
nach Müllner, Houwald und haben einen gewissen sentimentalen Zug nach Dänemark
hin. Doch ist es bekehrte Romantik; der Gedanke der Humanität läßt das frivol-
geniale Geister - und Küustlerwcsen der eigentlichen Schule nicht aufkommen. Ein bö¬
ser Edelmann wird bekehrt; der Bekehrer sagt zu ihm:


Du findest Heil und Ruh' in der Entsagung,

Sie gibt des Herzens Friede dir zurück.

^
Worauf der bekehrte Edelmann erwidert:


Nun, so entsag' ich denn dem falschen Ich,

Ich streife ab das alte morsche Kleid,

Zieh' an in Gottes Angesicht el» neues.

Ich steh nicht mehr der Menschheit gegenüber,
''

Ich steh in ihr und geb für sie mein Blut.


Worauf ihm replicirt wird:


Und nun gehörst du selbst dir wieder an,

Denn wer die Menschheit liebt, der liebt sich selbst,


Und wer sie haßt, der haßt sich selbst in ihr.

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Verlag von F. L. Hcrbig. — Redacteure: Gustav Freytag und Julian Schmidt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/248>, abgerufen am 23.07.2024.