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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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möge die Idee der Legitimität verspotten, so viel man will, sie ist doch die einzige
sichere Grundlage einer wahrhaft politischen Entwickelung. Mit der Vertreibung
der Dynastie, so wenig dieselbe irgend ein Mitgefühl in Anspruch nehmen darf,
war nicht nur das Königthum, sondern der Staat, die Gesellschaft in Frage gestellt.
Man lese die Geschichte dieser Tage in L. Blan c; so novellistisch die Darstellung,
so leichtsinnig der Verfasser in der Bearbeitung seiner Quelleu ist, so viel hat er
deutlich nachgewiesen, daß die alte parlamentarische Opposition die Vertreibung
Karls X. nicht wollte, daß sie vielmehr im letzten Augenblick dagegen zu operiren
suchte. Die Illegalität der berüchtigten Ordonnanzen war nur das Stichwort zum
Aufstand; der wesentliche Grund blieb jener Conflikt zwischen zwei verschiedenen
Klassen der Gesellschaft. Durch einen Thronwechsel kam die siegreiche Klasse der
Bourgeoisie in eine schiefe Stellung; sie mußte Principien vertreten, die sie selber
gewaltsam verletzt, für deren Verletzung sie wenigstens die nachträgliche Rechtfer¬
tigung übernommen hatte.

Wie weit Louis Philipp an den schmählichen Intriguen, die der großen Ka¬
tastrophe vorausgingen, Theil genommen, ob er mit dem alten Ehrgeiz seines
Hauses nach der Krone gestrebt, ob er nnr der Nothwendigkeit gefolgt, zu erhalten,
was zu erhalten war -- das wird sich schwerlich mit historischer Gewißheit heraus¬
stellen lassen. Ein Vorwurf trifft ihn unter allen Umständen: er hat nicht Seelen¬
stärke genug gehabt, der alten Regierung gegenüber eine bestimmte Stellung einzu¬
nehmen. Er hat sich dem Hof fremd gehalten, wo ihn ohnehin die blutige Erin¬
nerung an seinen Vater in den Schatten stellte, er hat die Banquiers und Advo¬
katen der Opposition um sich versammelt, jene Thiers und Mignet, die aus der
Geschichte der großen Revolution in echt französischem Leichtsinn eine amüsante
Lecture machten, im Charakter der Romane von Alex. Dumas; er hat mit der
herrschenden Partei gegrollt, mit der liberalen vielleicht etwas über Gebühr coquet-
tirt. Er ist von der strengen Idee des Rechts abgefallen, und in dieser zweideu¬
tigen Stellung zwischen der Leidenschaft der Masse und der Zähigkeit der Be¬
sitzenden hat ihn endlich als gerechte Nemesis das Verderben ereilt; der Greis ist
ohne Ehre gefallen, unbeweint und selbst unvertheidigt.

Um die Herrschaft nach der Julirevolution stritten die beiden Parteien, die
sich wegen gemeinsamer Unterdrückung gegen die alte Dynastie verbündet: sie sind
unter dem Namen der Cvnservatenrs und der dynastischen Opposition bekannt.
Die Einen zehrten von der Erinnerung an die napoleonischen Zeiten; sie wollten
Frankreich wieder als gewaltige Macht, seine Fahnen siegreich in allen Ländern
Europa's, seine Wimpel gebietend in allen Meeren sehen. Auf den Gegenstand
kam es ihnen nicht an: um dem alten Europa einen neuen Stoß zu versetzen, ein
neues Feld des Ruhmes zu erobern, sollte sich Frankreich an die Spitze der Natio¬
nen stellen, die Polen, die Italiener, die Rheinländer, vielleicht auch die Iren
insurgiren, die liberale Partei in Spanien unterstützen, den alten Tyrannen von


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möge die Idee der Legitimität verspotten, so viel man will, sie ist doch die einzige
sichere Grundlage einer wahrhaft politischen Entwickelung. Mit der Vertreibung
der Dynastie, so wenig dieselbe irgend ein Mitgefühl in Anspruch nehmen darf,
war nicht nur das Königthum, sondern der Staat, die Gesellschaft in Frage gestellt.
Man lese die Geschichte dieser Tage in L. Blan c; so novellistisch die Darstellung,
so leichtsinnig der Verfasser in der Bearbeitung seiner Quelleu ist, so viel hat er
deutlich nachgewiesen, daß die alte parlamentarische Opposition die Vertreibung
Karls X. nicht wollte, daß sie vielmehr im letzten Augenblick dagegen zu operiren
suchte. Die Illegalität der berüchtigten Ordonnanzen war nur das Stichwort zum
Aufstand; der wesentliche Grund blieb jener Conflikt zwischen zwei verschiedenen
Klassen der Gesellschaft. Durch einen Thronwechsel kam die siegreiche Klasse der
Bourgeoisie in eine schiefe Stellung; sie mußte Principien vertreten, die sie selber
gewaltsam verletzt, für deren Verletzung sie wenigstens die nachträgliche Rechtfer¬
tigung übernommen hatte.

Wie weit Louis Philipp an den schmählichen Intriguen, die der großen Ka¬
tastrophe vorausgingen, Theil genommen, ob er mit dem alten Ehrgeiz seines
Hauses nach der Krone gestrebt, ob er nnr der Nothwendigkeit gefolgt, zu erhalten,
was zu erhalten war — das wird sich schwerlich mit historischer Gewißheit heraus¬
stellen lassen. Ein Vorwurf trifft ihn unter allen Umständen: er hat nicht Seelen¬
stärke genug gehabt, der alten Regierung gegenüber eine bestimmte Stellung einzu¬
nehmen. Er hat sich dem Hof fremd gehalten, wo ihn ohnehin die blutige Erin¬
nerung an seinen Vater in den Schatten stellte, er hat die Banquiers und Advo¬
katen der Opposition um sich versammelt, jene Thiers und Mignet, die aus der
Geschichte der großen Revolution in echt französischem Leichtsinn eine amüsante
Lecture machten, im Charakter der Romane von Alex. Dumas; er hat mit der
herrschenden Partei gegrollt, mit der liberalen vielleicht etwas über Gebühr coquet-
tirt. Er ist von der strengen Idee des Rechts abgefallen, und in dieser zweideu¬
tigen Stellung zwischen der Leidenschaft der Masse und der Zähigkeit der Be¬
sitzenden hat ihn endlich als gerechte Nemesis das Verderben ereilt; der Greis ist
ohne Ehre gefallen, unbeweint und selbst unvertheidigt.

Um die Herrschaft nach der Julirevolution stritten die beiden Parteien, die
sich wegen gemeinsamer Unterdrückung gegen die alte Dynastie verbündet: sie sind
unter dem Namen der Cvnservatenrs und der dynastischen Opposition bekannt.
Die Einen zehrten von der Erinnerung an die napoleonischen Zeiten; sie wollten
Frankreich wieder als gewaltige Macht, seine Fahnen siegreich in allen Ländern
Europa's, seine Wimpel gebietend in allen Meeren sehen. Auf den Gegenstand
kam es ihnen nicht an: um dem alten Europa einen neuen Stoß zu versetzen, ein
neues Feld des Ruhmes zu erobern, sollte sich Frankreich an die Spitze der Natio¬
nen stellen, die Polen, die Italiener, die Rheinländer, vielleicht auch die Iren
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/19>, abgerufen am 23.12.2024.