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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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gelehrte Style und Verse, welch originelle Weltanschauung der einzelnen Dra¬
matiker stritten um die Herrschaft; das deutsche Repertoir wurde eine Hanswurst¬
jacke, auf welcher die verschiedensten Farben, alle Nationalitäten, alle Formen,
aller Geschmack und Ungeschmack dicht hinter einander zu sehen waren, alles in
demselben Hanse und von denselben Schauspielern dargestellt. Dabei verflachte
und verwilderte die Kmist des Schauspielers, der heute griechische Tragödie, mor¬
gen des Räubers Moor Kernsprüche, und wieder die Masken des zärtlichen Vaters
oder des Wiener Hanswursts abspielen mußte, sein Spiel wnrdeBühneucouveuienz und
Manier, seine Sprache verlor die Bildung, auch das Theaterpublikum verdummte;
man hatte ihm prächtige Schauspielhäuser gebaut, deren wüste Größe auf das
Produciren von Seegefechten und Schlachtgemälden berechnet schien, nicht auf den
seelenvollen Klang einer schön gebildeten Menschenstimme.

Wir sind sehr weit heruntergekommen in unsrer dramatischen Kunst und es
nützt nichts, sich darüber Illusionen zu machen. Die Bühnen sind fest, zum Theil
und reichlich dotirt, der Schauspiclerstand ist emancipirt, auch der Dichter
wird honorirt und nichts will helfen. Alle Versuche neuerer Poeten und ein¬
zelner bedeutender Schauspieler sind bis jetzt fruchtlos gewesen, die Dichter
leiden immer noch an dem Unglück, wenig von den Lebensbedingungen eines
spielbaren Dramas zu wissen und der jüngste Kampf der rührigsten unter ihnen,
das Drama durch den Reiz feiner Empfindungen und höherer Interessen durch das
Heraustreten aus den stereotypen Formen des Familienstückes zu heben, sind daran
gescheitert, daß sie große Charaktere und großes Menschenschicksal nicht machen
können, weil ihnen das deutsche Leben keine lebendigen Vorbilder davon gibt und
die Anregungen erst mühsam und reflectirt aus geschichtlichen Studien geholt wer¬
den müssen. Dazu kommt die Halbheit, Schwäche und Unwahrheit, welche bis
jetzt massenhaft auf deu deutschen Zuständen und dem Leben der Einzelnen lastet,
und sür die dramatischen Schriftsteller noch vergrößert wird durch die Leichtigkeit,
mit welcher die mäßige Anstrengung eines Talentes in solcher Theaterzeit Erfolge
erringen kann. Es steht schlecht um die dramatische Kunst und wir suchen nach
Rettung.

Die gründliche Heilung liegt in der Zukunft. Der Kreis jener großen Wand¬
lungen, welche periodenweise durch das Einströmen des Alterthums in die deutsche
Volksseele geschehen, ist vollendet, die Nation hat endlich nach fast 2000 Jahren
diese Lehrzeit durchgemacht, sehr langsam und sehr gründlich. Jetzt ist die Zeit
gekommen, wo sie sich selbstthätig und männlich ihr Leben zu formen, ihm Stärke,
Mannigfaltigkeit und) Frische zu geben hat. An der staatlichen Entwicklung der
Deutschen hangt fortan ihre gesammte künstlerische. Das Leben des Forums schaffe
Charaktere, so wird der Dichter und Schauspieler sie darstellen können, es gebe
dem Einzelnen Selbstgefühl, so werden die Künstler den Muth haben, ehrlich ge¬
gen ihre Kunst zu sein, so schaffe uus die übermüthige Frende am Leben und sei-


gelehrte Style und Verse, welch originelle Weltanschauung der einzelnen Dra¬
matiker stritten um die Herrschaft; das deutsche Repertoir wurde eine Hanswurst¬
jacke, auf welcher die verschiedensten Farben, alle Nationalitäten, alle Formen,
aller Geschmack und Ungeschmack dicht hinter einander zu sehen waren, alles in
demselben Hanse und von denselben Schauspielern dargestellt. Dabei verflachte
und verwilderte die Kmist des Schauspielers, der heute griechische Tragödie, mor¬
gen des Räubers Moor Kernsprüche, und wieder die Masken des zärtlichen Vaters
oder des Wiener Hanswursts abspielen mußte, sein Spiel wnrdeBühneucouveuienz und
Manier, seine Sprache verlor die Bildung, auch das Theaterpublikum verdummte;
man hatte ihm prächtige Schauspielhäuser gebaut, deren wüste Größe auf das
Produciren von Seegefechten und Schlachtgemälden berechnet schien, nicht auf den
seelenvollen Klang einer schön gebildeten Menschenstimme.

Wir sind sehr weit heruntergekommen in unsrer dramatischen Kunst und es
nützt nichts, sich darüber Illusionen zu machen. Die Bühnen sind fest, zum Theil
und reichlich dotirt, der Schauspiclerstand ist emancipirt, auch der Dichter
wird honorirt und nichts will helfen. Alle Versuche neuerer Poeten und ein¬
zelner bedeutender Schauspieler sind bis jetzt fruchtlos gewesen, die Dichter
leiden immer noch an dem Unglück, wenig von den Lebensbedingungen eines
spielbaren Dramas zu wissen und der jüngste Kampf der rührigsten unter ihnen,
das Drama durch den Reiz feiner Empfindungen und höherer Interessen durch das
Heraustreten aus den stereotypen Formen des Familienstückes zu heben, sind daran
gescheitert, daß sie große Charaktere und großes Menschenschicksal nicht machen
können, weil ihnen das deutsche Leben keine lebendigen Vorbilder davon gibt und
die Anregungen erst mühsam und reflectirt aus geschichtlichen Studien geholt wer¬
den müssen. Dazu kommt die Halbheit, Schwäche und Unwahrheit, welche bis
jetzt massenhaft auf deu deutschen Zuständen und dem Leben der Einzelnen lastet,
und sür die dramatischen Schriftsteller noch vergrößert wird durch die Leichtigkeit,
mit welcher die mäßige Anstrengung eines Talentes in solcher Theaterzeit Erfolge
erringen kann. Es steht schlecht um die dramatische Kunst und wir suchen nach
Rettung.

Die gründliche Heilung liegt in der Zukunft. Der Kreis jener großen Wand¬
lungen, welche periodenweise durch das Einströmen des Alterthums in die deutsche
Volksseele geschehen, ist vollendet, die Nation hat endlich nach fast 2000 Jahren
diese Lehrzeit durchgemacht, sehr langsam und sehr gründlich. Jetzt ist die Zeit
gekommen, wo sie sich selbstthätig und männlich ihr Leben zu formen, ihm Stärke,
Mannigfaltigkeit und) Frische zu geben hat. An der staatlichen Entwicklung der
Deutschen hangt fortan ihre gesammte künstlerische. Das Leben des Forums schaffe
Charaktere, so wird der Dichter und Schauspieler sie darstellen können, es gebe
dem Einzelnen Selbstgefühl, so werden die Künstler den Muth haben, ehrlich ge¬
gen ihre Kunst zu sein, so schaffe uus die übermüthige Frende am Leben und sei-


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[0141] gelehrte Style und Verse, welch originelle Weltanschauung der einzelnen Dra¬ matiker stritten um die Herrschaft; das deutsche Repertoir wurde eine Hanswurst¬ jacke, auf welcher die verschiedensten Farben, alle Nationalitäten, alle Formen, aller Geschmack und Ungeschmack dicht hinter einander zu sehen waren, alles in demselben Hanse und von denselben Schauspielern dargestellt. Dabei verflachte und verwilderte die Kmist des Schauspielers, der heute griechische Tragödie, mor¬ gen des Räubers Moor Kernsprüche, und wieder die Masken des zärtlichen Vaters oder des Wiener Hanswursts abspielen mußte, sein Spiel wnrdeBühneucouveuienz und Manier, seine Sprache verlor die Bildung, auch das Theaterpublikum verdummte; man hatte ihm prächtige Schauspielhäuser gebaut, deren wüste Größe auf das Produciren von Seegefechten und Schlachtgemälden berechnet schien, nicht auf den seelenvollen Klang einer schön gebildeten Menschenstimme. Wir sind sehr weit heruntergekommen in unsrer dramatischen Kunst und es nützt nichts, sich darüber Illusionen zu machen. Die Bühnen sind fest, zum Theil und reichlich dotirt, der Schauspiclerstand ist emancipirt, auch der Dichter wird honorirt und nichts will helfen. Alle Versuche neuerer Poeten und ein¬ zelner bedeutender Schauspieler sind bis jetzt fruchtlos gewesen, die Dichter leiden immer noch an dem Unglück, wenig von den Lebensbedingungen eines spielbaren Dramas zu wissen und der jüngste Kampf der rührigsten unter ihnen, das Drama durch den Reiz feiner Empfindungen und höherer Interessen durch das Heraustreten aus den stereotypen Formen des Familienstückes zu heben, sind daran gescheitert, daß sie große Charaktere und großes Menschenschicksal nicht machen können, weil ihnen das deutsche Leben keine lebendigen Vorbilder davon gibt und die Anregungen erst mühsam und reflectirt aus geschichtlichen Studien geholt wer¬ den müssen. Dazu kommt die Halbheit, Schwäche und Unwahrheit, welche bis jetzt massenhaft auf deu deutschen Zuständen und dem Leben der Einzelnen lastet, und sür die dramatischen Schriftsteller noch vergrößert wird durch die Leichtigkeit, mit welcher die mäßige Anstrengung eines Talentes in solcher Theaterzeit Erfolge erringen kann. Es steht schlecht um die dramatische Kunst und wir suchen nach Rettung. Die gründliche Heilung liegt in der Zukunft. Der Kreis jener großen Wand¬ lungen, welche periodenweise durch das Einströmen des Alterthums in die deutsche Volksseele geschehen, ist vollendet, die Nation hat endlich nach fast 2000 Jahren diese Lehrzeit durchgemacht, sehr langsam und sehr gründlich. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo sie sich selbstthätig und männlich ihr Leben zu formen, ihm Stärke, Mannigfaltigkeit und) Frische zu geben hat. An der staatlichen Entwicklung der Deutschen hangt fortan ihre gesammte künstlerische. Das Leben des Forums schaffe Charaktere, so wird der Dichter und Schauspieler sie darstellen können, es gebe dem Einzelnen Selbstgefühl, so werden die Künstler den Muth haben, ehrlich ge¬ gen ihre Kunst zu sein, so schaffe uus die übermüthige Frende am Leben und sei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/141>, abgerufen am 23.07.2024.