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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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in Norddeutschland bemächtigt, die deutsche Sprache hatte zwar in ihren Stücken
bereits gesiegt, aber sie schrieben pedantische hohle Allegorien, in denen gelehrte
Streitigkeiten und Spitzfindigkeiten sich breit machten. Das Volk folgte zuerst wi¬
derstandslos dieser Richtung, welche jede Darstcllungskunst vernichtete, bis am Ende
des 16. Jahrhunderts ans den benachbarten Niederlanden rohe aber volksthümliche
Komödiantenbanden über Deutschland hereinbrachen, welche wieder derbere Kost mit
sich führten und durch Possenreißerei, Darstellung abenteuerlicher und wilder Bege¬
benheiten zwar viel Unsittliches und Wüstes nach Deutschland schleppten, aber auch
die ersten Anfänge von Schauspielerkunst und dramatischer Wirkung mit sich trugen.
Die Schulweisheit der gelehrten Dramen wurde zurückgedrängt; trotz der glän¬
zenden Schaulspiele, welche die Jesuiten in Deutschland einführten, trotz des Luxus,
mit welchem die höfische Oper ausgestattet wurde, blähte sich überall wieder ein
roher Volksgeschmack, welcher sich in gräuelhaften Schauerstücken und unflätigen
Possen befriedigte, wie das Jahrhundert des dreißigjährigen Kriegs es verlangte.
Vergebens suchten noch einmal die gelehrten schlesischen Dichterschnlen mit steifen
Alexandrinern gegen diesen Geschmack anzukämpfen, die Zügellosigkeit und Zer¬
fahrenheit der Theaterstücke fand in einer Menge von reisenden Banden eine
feste Stütze. Zuletzt schaffte man die Dichter ganz ab, man extemporirte Komö¬
dien und Tragödien und die gemeinen stereotypen Späße des Hanswursts füllten
die Bühne und vollendeten die Zerstörung des volksthümlichen Schauspiels, wel¬
ches wieder in sich selbst zusammenbrach. --

Da kam der erstarrenden Bildungskraft unsrer Nation von der Mitte
des vorigen Jahrhunderts ab, diesmal milder und allmäliger, eine dritte
große Verbindung deutscher Art mit dem Leben fremder Völker. Diesmal
war es die schönste Blüthe des Alterthums, die antike Kunst und deren Verständ¬
niß , welche zuerst durch ihren Zauber den Gesichtskreis der Deutschen umformte.
An der griechischen Plastik wurden durch Winkelmann die innern Lebensgesetze der
Kunst nachgewiesen; es kam die Ahnung, das Verständniß von idealer Schönheit,
man erkannte das innerste Leben fremder Schöpfungen und fremder Völker, weil
man die Seele des Menschen belauscht hatte in ihrer höchsten Thätigkeit, dem freien
Schaffen. Die Pedanterie der alten Philologen verlor ihren Einfluß, eine humane
idealistische Bildung erhielt die Herrschaft, alle Wissenschaften gingen jetzt mit
reißender Schnelligkeit in die Tiefe und Breite, alle Räume, alle Zeiten, alle
Völker öffneten ihr Inneres dem Herrenange eines jungen selbstbewußten, sieges¬
freudigen Geschlechtes. Die Wechselwirkung der Nationen Europas auf einander
wurde eine ununterbrochene, elektrische; das deutsche Volk hatte seine Kinder- und
Jünglingsjahre durchgemacht und war in das Mannesalter getreten. Noch sind
die Persönlichkeiten, welche unsre große Entwickelung seit Winkelmann und Les¬
sing bezeichnen, bekannter als der innere Gang der Entwickelung selbst. Die
dramatische Kunst macht getreulich diesen dritten Rtesenschritt des deutschen Volkes


in Norddeutschland bemächtigt, die deutsche Sprache hatte zwar in ihren Stücken
bereits gesiegt, aber sie schrieben pedantische hohle Allegorien, in denen gelehrte
Streitigkeiten und Spitzfindigkeiten sich breit machten. Das Volk folgte zuerst wi¬
derstandslos dieser Richtung, welche jede Darstcllungskunst vernichtete, bis am Ende
des 16. Jahrhunderts ans den benachbarten Niederlanden rohe aber volksthümliche
Komödiantenbanden über Deutschland hereinbrachen, welche wieder derbere Kost mit
sich führten und durch Possenreißerei, Darstellung abenteuerlicher und wilder Bege¬
benheiten zwar viel Unsittliches und Wüstes nach Deutschland schleppten, aber auch
die ersten Anfänge von Schauspielerkunst und dramatischer Wirkung mit sich trugen.
Die Schulweisheit der gelehrten Dramen wurde zurückgedrängt; trotz der glän¬
zenden Schaulspiele, welche die Jesuiten in Deutschland einführten, trotz des Luxus,
mit welchem die höfische Oper ausgestattet wurde, blähte sich überall wieder ein
roher Volksgeschmack, welcher sich in gräuelhaften Schauerstücken und unflätigen
Possen befriedigte, wie das Jahrhundert des dreißigjährigen Kriegs es verlangte.
Vergebens suchten noch einmal die gelehrten schlesischen Dichterschnlen mit steifen
Alexandrinern gegen diesen Geschmack anzukämpfen, die Zügellosigkeit und Zer¬
fahrenheit der Theaterstücke fand in einer Menge von reisenden Banden eine
feste Stütze. Zuletzt schaffte man die Dichter ganz ab, man extemporirte Komö¬
dien und Tragödien und die gemeinen stereotypen Späße des Hanswursts füllten
die Bühne und vollendeten die Zerstörung des volksthümlichen Schauspiels, wel¬
ches wieder in sich selbst zusammenbrach. —

Da kam der erstarrenden Bildungskraft unsrer Nation von der Mitte
des vorigen Jahrhunderts ab, diesmal milder und allmäliger, eine dritte
große Verbindung deutscher Art mit dem Leben fremder Völker. Diesmal
war es die schönste Blüthe des Alterthums, die antike Kunst und deren Verständ¬
niß , welche zuerst durch ihren Zauber den Gesichtskreis der Deutschen umformte.
An der griechischen Plastik wurden durch Winkelmann die innern Lebensgesetze der
Kunst nachgewiesen; es kam die Ahnung, das Verständniß von idealer Schönheit,
man erkannte das innerste Leben fremder Schöpfungen und fremder Völker, weil
man die Seele des Menschen belauscht hatte in ihrer höchsten Thätigkeit, dem freien
Schaffen. Die Pedanterie der alten Philologen verlor ihren Einfluß, eine humane
idealistische Bildung erhielt die Herrschaft, alle Wissenschaften gingen jetzt mit
reißender Schnelligkeit in die Tiefe und Breite, alle Räume, alle Zeiten, alle
Völker öffneten ihr Inneres dem Herrenange eines jungen selbstbewußten, sieges¬
freudigen Geschlechtes. Die Wechselwirkung der Nationen Europas auf einander
wurde eine ununterbrochene, elektrische; das deutsche Volk hatte seine Kinder- und
Jünglingsjahre durchgemacht und war in das Mannesalter getreten. Noch sind
die Persönlichkeiten, welche unsre große Entwickelung seit Winkelmann und Les¬
sing bezeichnen, bekannter als der innere Gang der Entwickelung selbst. Die
dramatische Kunst macht getreulich diesen dritten Rtesenschritt des deutschen Volkes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/139>, abgerufen am 23.12.2024.