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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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der dramatischen Kunst gilt dies doppelt, sie gibt nicht nur ein Bild von dem
Geschmack und der Richtung der Genießenden, sondern sie stellt das Menschenleben
selbst in seinen Höhen und Tiefen dar, wie es gerade von den verschiedenen
Zeiten aufgefaßt wird, und die Personen, deren Wandlungen nach einem be¬
stimmten künstlerischen Ziel hin sie schildert, sind in diesem Sinne das ideale Leben
des Volkes selbst. Deshalb hat die dramatische Kunst genauer als jede andere
alle Bilduugsphasen des Volkes mitgemacht und ihre Geschichte wird nur verständ¬
lich aus der Geschichte der Nation.

Das Leben des deutschen Volkes ist seit seiner geschichtlichen Gestaltung bis
jetzt stets in zwei Richtungen fortgegangen, welche man die gelehrte und volksthüm-
liche nennen mag, oft haben sie sich berührt und durchkreuzt, immer wieder von
einander abgelöst. Man hat diesen Gegensatz im Einzelnen häufig als ein Un¬
glück empfunden, er ist das Schicksal der Deutschen und war bis jetzt die noth¬
wendige Bedingung eines jeden großen Fortschritts; er ist eben so natürlich,
als er uralt ist. Die Deutschen traten in die Weltgeschichte nicht auf umgebauten
Grund, das ganze Leben des classischen Alterthums hatte für ihr Leben vor¬
gearbeitet, ein ungeheurer Schatz von Bildung war vorhanden, es war eine Erb¬
schaft, welche sie sich anzueignen hatten, denn sie waren das dritte Herrengeschlecht
der Erde, die Enkel. Auch forderte die deutsche Nationalität in ihrer Jugendzeit
Anregung und Befruchtung von Außen in demselben hohen Grade, in welchem
sie Empfänglichkeit dafür und die Kraft besaß, das Fremde organisch mit sich zu
verbinden. Aber eine fremde Welt in sich aufzunehmen, ist nicht mühelos und
leicht, erfordert fast immer geistige Kraft und geschieht deshalb zunächst durch ein¬
zelne Begünstigte. Was diese mit Eimern ans dem verborgenen Brunnen ge¬
schöpft haben, neues Wissen, neue Anschauungen, verändertes Empfinden, das
fließt durch tausend kleine Röhren ans den großen Boden des Volkslebens und
ruft dort neue Blüthen hervor. So läßt sich die ganze Bildungsgeschichte des
deutschen Volkes und seiner dramatischen Kunst darstellen als eine Reihenfolge von
Verbindungen der deutscheu Nationalität mit dem Seelenleben fremder, am meisten
der antiken Völker, aus welchen neue originale Gestaltungen hervorwuchsen. In
großen ZwiscHenränmen und durch weltbewegende Ereignisse pflegten die Haupt¬
schläge dieser Vereinigung zu geschehn; aber immer machte sich die Aneignung deS
Fremden auf dieselbe widerkehrende Weise. Zuerst reißen die Gelehrten, welche
den neugewonnenen fremden Geist dem Volk gegenüber vertreten, die Nation mit
sich fort, und das Volk versucht eben so liebenswürdig naiv, als ungeschickt in
seiner Art das Fremde nachzubilden, dann wird das Fremde wirklich Eigen¬
thum der deutschen Volksseele und verbindet sich innerlich und fest mit der alten
Volksindividualität und endlich kommt ihm gegenüber die uralte Eigenthümlichkeit
wieder zur Herrschaft und erhebt das Haupt trotzig und übermüthig, den neuen
Gewinnst eben sowohl überwindend, als zerstörend.


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der dramatischen Kunst gilt dies doppelt, sie gibt nicht nur ein Bild von dem
Geschmack und der Richtung der Genießenden, sondern sie stellt das Menschenleben
selbst in seinen Höhen und Tiefen dar, wie es gerade von den verschiedenen
Zeiten aufgefaßt wird, und die Personen, deren Wandlungen nach einem be¬
stimmten künstlerischen Ziel hin sie schildert, sind in diesem Sinne das ideale Leben
des Volkes selbst. Deshalb hat die dramatische Kunst genauer als jede andere
alle Bilduugsphasen des Volkes mitgemacht und ihre Geschichte wird nur verständ¬
lich aus der Geschichte der Nation.

Das Leben des deutschen Volkes ist seit seiner geschichtlichen Gestaltung bis
jetzt stets in zwei Richtungen fortgegangen, welche man die gelehrte und volksthüm-
liche nennen mag, oft haben sie sich berührt und durchkreuzt, immer wieder von
einander abgelöst. Man hat diesen Gegensatz im Einzelnen häufig als ein Un¬
glück empfunden, er ist das Schicksal der Deutschen und war bis jetzt die noth¬
wendige Bedingung eines jeden großen Fortschritts; er ist eben so natürlich,
als er uralt ist. Die Deutschen traten in die Weltgeschichte nicht auf umgebauten
Grund, das ganze Leben des classischen Alterthums hatte für ihr Leben vor¬
gearbeitet, ein ungeheurer Schatz von Bildung war vorhanden, es war eine Erb¬
schaft, welche sie sich anzueignen hatten, denn sie waren das dritte Herrengeschlecht
der Erde, die Enkel. Auch forderte die deutsche Nationalität in ihrer Jugendzeit
Anregung und Befruchtung von Außen in demselben hohen Grade, in welchem
sie Empfänglichkeit dafür und die Kraft besaß, das Fremde organisch mit sich zu
verbinden. Aber eine fremde Welt in sich aufzunehmen, ist nicht mühelos und
leicht, erfordert fast immer geistige Kraft und geschieht deshalb zunächst durch ein¬
zelne Begünstigte. Was diese mit Eimern ans dem verborgenen Brunnen ge¬
schöpft haben, neues Wissen, neue Anschauungen, verändertes Empfinden, das
fließt durch tausend kleine Röhren ans den großen Boden des Volkslebens und
ruft dort neue Blüthen hervor. So läßt sich die ganze Bildungsgeschichte des
deutschen Volkes und seiner dramatischen Kunst darstellen als eine Reihenfolge von
Verbindungen der deutscheu Nationalität mit dem Seelenleben fremder, am meisten
der antiken Völker, aus welchen neue originale Gestaltungen hervorwuchsen. In
großen ZwiscHenränmen und durch weltbewegende Ereignisse pflegten die Haupt¬
schläge dieser Vereinigung zu geschehn; aber immer machte sich die Aneignung deS
Fremden auf dieselbe widerkehrende Weise. Zuerst reißen die Gelehrten, welche
den neugewonnenen fremden Geist dem Volk gegenüber vertreten, die Nation mit
sich fort, und das Volk versucht eben so liebenswürdig naiv, als ungeschickt in
seiner Art das Fremde nachzubilden, dann wird das Fremde wirklich Eigen¬
thum der deutschen Volksseele und verbindet sich innerlich und fest mit der alten
Volksindividualität und endlich kommt ihm gegenüber die uralte Eigenthümlichkeit
wieder zur Herrschaft und erhebt das Haupt trotzig und übermüthig, den neuen
Gewinnst eben sowohl überwindend, als zerstörend.


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[0137] der dramatischen Kunst gilt dies doppelt, sie gibt nicht nur ein Bild von dem Geschmack und der Richtung der Genießenden, sondern sie stellt das Menschenleben selbst in seinen Höhen und Tiefen dar, wie es gerade von den verschiedenen Zeiten aufgefaßt wird, und die Personen, deren Wandlungen nach einem be¬ stimmten künstlerischen Ziel hin sie schildert, sind in diesem Sinne das ideale Leben des Volkes selbst. Deshalb hat die dramatische Kunst genauer als jede andere alle Bilduugsphasen des Volkes mitgemacht und ihre Geschichte wird nur verständ¬ lich aus der Geschichte der Nation. Das Leben des deutschen Volkes ist seit seiner geschichtlichen Gestaltung bis jetzt stets in zwei Richtungen fortgegangen, welche man die gelehrte und volksthüm- liche nennen mag, oft haben sie sich berührt und durchkreuzt, immer wieder von einander abgelöst. Man hat diesen Gegensatz im Einzelnen häufig als ein Un¬ glück empfunden, er ist das Schicksal der Deutschen und war bis jetzt die noth¬ wendige Bedingung eines jeden großen Fortschritts; er ist eben so natürlich, als er uralt ist. Die Deutschen traten in die Weltgeschichte nicht auf umgebauten Grund, das ganze Leben des classischen Alterthums hatte für ihr Leben vor¬ gearbeitet, ein ungeheurer Schatz von Bildung war vorhanden, es war eine Erb¬ schaft, welche sie sich anzueignen hatten, denn sie waren das dritte Herrengeschlecht der Erde, die Enkel. Auch forderte die deutsche Nationalität in ihrer Jugendzeit Anregung und Befruchtung von Außen in demselben hohen Grade, in welchem sie Empfänglichkeit dafür und die Kraft besaß, das Fremde organisch mit sich zu verbinden. Aber eine fremde Welt in sich aufzunehmen, ist nicht mühelos und leicht, erfordert fast immer geistige Kraft und geschieht deshalb zunächst durch ein¬ zelne Begünstigte. Was diese mit Eimern ans dem verborgenen Brunnen ge¬ schöpft haben, neues Wissen, neue Anschauungen, verändertes Empfinden, das fließt durch tausend kleine Röhren ans den großen Boden des Volkslebens und ruft dort neue Blüthen hervor. So läßt sich die ganze Bildungsgeschichte des deutschen Volkes und seiner dramatischen Kunst darstellen als eine Reihenfolge von Verbindungen der deutscheu Nationalität mit dem Seelenleben fremder, am meisten der antiken Völker, aus welchen neue originale Gestaltungen hervorwuchsen. In großen ZwiscHenränmen und durch weltbewegende Ereignisse pflegten die Haupt¬ schläge dieser Vereinigung zu geschehn; aber immer machte sich die Aneignung deS Fremden auf dieselbe widerkehrende Weise. Zuerst reißen die Gelehrten, welche den neugewonnenen fremden Geist dem Volk gegenüber vertreten, die Nation mit sich fort, und das Volk versucht eben so liebenswürdig naiv, als ungeschickt in seiner Art das Fremde nachzubilden, dann wird das Fremde wirklich Eigen¬ thum der deutschen Volksseele und verbindet sich innerlich und fest mit der alten Volksindividualität und endlich kommt ihm gegenüber die uralte Eigenthümlichkeit wieder zur Herrschaft und erhebt das Haupt trotzig und übermüthig, den neuen Gewinnst eben sowohl überwindend, als zerstörend. BrcnMtn. I. l»4«. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/137>, abgerufen am 23.07.2024.