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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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mit größter Virtuosität, und, was mehr sagen will, mit der gehörigen Mäßigung
ausgebeutet.

Sidonie ist die zweite, höhere Stufe dieser Lügenhaftigkeit. Sie ist von
umfassender Bildung, starken Leidenschaften, interessanten Launen, ihr Wesen ist
also nicht blos gemacht, wie das ihres Vaters, der mit seinen Sentiments die
angeborne Einfalt nie verbergen kann. Sidonie hat Inhalt, sie weiß selbst den
geistreichen Helden zu bezaubern, aber sie ist doch wieder klein genug, einer ge¬
wöhnlichen prosaischen Natur Stoff zur gerechtesten Ironie zu geben. Ihr Bräu¬
tigam übersteht sie, er zeigt ihr ganz richtig, daß sie nach den Zuständen des Ver-
kanntwerdcns u. s. w. sich sehne, daß sie unglücklich sein werde, wenn sie ans
der Rolle der komm" iueomz"ii"K heraustreten müsse. Ein Zug der Selbstironie,
der Gutzkow eigenthümlich ist; denn Selbstironie ist es, sie trifft das eigne Wesen.
Von der Wally herauf zur prosaisch gehaltenen Seraphine und immer so weiter
hat diese Figur den Dichter mit großer Vorliebe beschäftigt; seitdem hat die Gräfin
Hahn-Hahn und ihre Schule dasselbe Genre mit weit größerem Glück angebaut,
und die Clelia's, Faustinen, u. s. w., haben bei aller Willkürlichkeit, immer ein
weit größeres Interesse als die derartigen Schöpfungen des jungen Deutsch¬
land, denn sie sind naiv und unmittelbar erlebt.

Der empfindsamen Dame steht der ironische Weltmann gegenüber, Graf Hugo;
ein Aristokrat, der durch gebildete Reflexion über alle sittlichen Bedenken hinaus
ist, ohne deshalb irgendwie böse zu sein. Wir haben diese Figur den Franzosen
abgelauscht und sie in neuester Zeit mit großem Eifer cultivirt. Die Frivolität,
die Freiheit von den sogenannten sittlichen Voraussetzungen, hat ihre wesentliche
sittliche Berechtigung; sie ist das Ferment, aus welchem der höhere sittliche Geist
hervorgeht. Die Frivolität ist der Anfang der Emancipation. Um sie aber dar¬
zustellen, muß man wenigstens die Fähigkeit dazu in sich tragen. Gutzkow ist nicht
frivol, nicht frei, obgleich ungläubig und skeptisch; daher seine häufigen Bezie¬
hungen auf den Vater droben u. f. w. Es ist ihm daher keine rechte Freude an
einer solchen Schöpfung. Zwar ist es ihm diesmal mehr als je gelungen, wenig¬
stens die Sprache der Bildung festzuhalten -- in dem Haupthelden selbst springt
er denn doch alle Augenblicke in Kotzebue und Clauren über --- dafür verliert er
zuweilen das Maaß, das der aristokratischen Bildung allein Berechtigung verleiht.
Verliert die Selbstsucht dieses Maaß, so wird sie gemein. Ein Edelmann, der
zu seinem Freunde sagen kann: wenn Sidonie meine Frau ist, kannst dn ja wei¬
ter mit ihr u. s. w., setzt sich Ohrfeigen aus. Man kann Diplomat genug sein,
derartige Verhältnisse zu ignoriren, sobald man aber sagt, daß man sie ignorirt,
ist man nicht mehr Edelmann, sondern gemeiner Halunke.

Endlich der Hauptheld selbst. Ju ihm ist kein Fortschritt. Ottfried ist Cä¬
sar, Werner, Uriel Acosta u. s. w., der geistvolle Maun, der absolut nicht weiß
was er will, die schwächliche Molluske ohne Knochen und Mark. Von allen Seiten


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mit größter Virtuosität, und, was mehr sagen will, mit der gehörigen Mäßigung
ausgebeutet.

Sidonie ist die zweite, höhere Stufe dieser Lügenhaftigkeit. Sie ist von
umfassender Bildung, starken Leidenschaften, interessanten Launen, ihr Wesen ist
also nicht blos gemacht, wie das ihres Vaters, der mit seinen Sentiments die
angeborne Einfalt nie verbergen kann. Sidonie hat Inhalt, sie weiß selbst den
geistreichen Helden zu bezaubern, aber sie ist doch wieder klein genug, einer ge¬
wöhnlichen prosaischen Natur Stoff zur gerechtesten Ironie zu geben. Ihr Bräu¬
tigam übersteht sie, er zeigt ihr ganz richtig, daß sie nach den Zuständen des Ver-
kanntwerdcns u. s. w. sich sehne, daß sie unglücklich sein werde, wenn sie ans
der Rolle der komm« iueomz»ii«K heraustreten müsse. Ein Zug der Selbstironie,
der Gutzkow eigenthümlich ist; denn Selbstironie ist es, sie trifft das eigne Wesen.
Von der Wally herauf zur prosaisch gehaltenen Seraphine und immer so weiter
hat diese Figur den Dichter mit großer Vorliebe beschäftigt; seitdem hat die Gräfin
Hahn-Hahn und ihre Schule dasselbe Genre mit weit größerem Glück angebaut,
und die Clelia's, Faustinen, u. s. w., haben bei aller Willkürlichkeit, immer ein
weit größeres Interesse als die derartigen Schöpfungen des jungen Deutsch¬
land, denn sie sind naiv und unmittelbar erlebt.

Der empfindsamen Dame steht der ironische Weltmann gegenüber, Graf Hugo;
ein Aristokrat, der durch gebildete Reflexion über alle sittlichen Bedenken hinaus
ist, ohne deshalb irgendwie böse zu sein. Wir haben diese Figur den Franzosen
abgelauscht und sie in neuester Zeit mit großem Eifer cultivirt. Die Frivolität,
die Freiheit von den sogenannten sittlichen Voraussetzungen, hat ihre wesentliche
sittliche Berechtigung; sie ist das Ferment, aus welchem der höhere sittliche Geist
hervorgeht. Die Frivolität ist der Anfang der Emancipation. Um sie aber dar¬
zustellen, muß man wenigstens die Fähigkeit dazu in sich tragen. Gutzkow ist nicht
frivol, nicht frei, obgleich ungläubig und skeptisch; daher seine häufigen Bezie¬
hungen auf den Vater droben u. f. w. Es ist ihm daher keine rechte Freude an
einer solchen Schöpfung. Zwar ist es ihm diesmal mehr als je gelungen, wenig¬
stens die Sprache der Bildung festzuhalten — in dem Haupthelden selbst springt
er denn doch alle Augenblicke in Kotzebue und Clauren über -— dafür verliert er
zuweilen das Maaß, das der aristokratischen Bildung allein Berechtigung verleiht.
Verliert die Selbstsucht dieses Maaß, so wird sie gemein. Ein Edelmann, der
zu seinem Freunde sagen kann: wenn Sidonie meine Frau ist, kannst dn ja wei¬
ter mit ihr u. s. w., setzt sich Ohrfeigen aus. Man kann Diplomat genug sein,
derartige Verhältnisse zu ignoriren, sobald man aber sagt, daß man sie ignorirt,
ist man nicht mehr Edelmann, sondern gemeiner Halunke.

Endlich der Hauptheld selbst. Ju ihm ist kein Fortschritt. Ottfried ist Cä¬
sar, Werner, Uriel Acosta u. s. w., der geistvolle Maun, der absolut nicht weiß
was er will, die schwächliche Molluske ohne Knochen und Mark. Von allen Seiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/105>, abgerufen am 23.12.2024.