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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Pflicht allzu wohl. Aber richten Sie Ihren Blick auf den jetzt eben Eintretenden;
das ist Vogt, der Professor von Gießen, der Atheist und Witzbold. Guten
Abend, sagt er mit tiefer Baßstimme, ergreift das erste beste Glas, leert es, und
fährt fort: Warum wäret Ihr nicht im Storchen zu Sachsenhauser? Famoser
Wein für zwölf Kreuzer. -- Ah, Du hast also Deine Electricität wieder erhascht?
fragt Wcseudont, der ungeschickt darauf anspielen will, daß Vogt die Seelenthätig¬
keit nur für eine electrische Function hält. Stille, Freund, entgegnet dieser, Deine
Batterie ist so schlecht geladen, daß ich an Dir in meinem Glauben irre gewor¬
den bin. Minna, einen Schoppen. Und dann beginnt er eine moderne Opernarie
zu singen. Mit Vogt's Erscheinen ist ein neuer Geist in die Versammelten ge¬
fahren, Titus befreit zum ersten Male seinen Ellenbogen von der schweren Last
des Kopses, schüttelt die Mähnen und fängt an zu erwachen, Rösler führt irgend
einen Tanz aus, den er der Elster abgesehen haben will, und Simon sucht seinen
Freund Vogt, der bei Minna einen großen Stein im Brett zu haben scheint, zu
übertönen. Aus dem Zwielicht der entferntesten Ecke ringt sich aber noch eine
letzte Gruppe los und tritt hervor in die rothe Helle der Gasflamme. Es ist
Hentyes, der radikale Bierbrauermeister von Heilbronn, ein schlichter Schwabe,
der treue Hederich, einer der jugendlichen Deputirten Oestreichs, der seine politi¬
sche Farbe durch die seiner Halsbinde offen kundgeben zu müssen glaubt, und der
böhmische Dichter Alfred Meißner. Letzterer ist zwar kein Abgeordneter, aber
er gehört zum intimen Gefolge der äußersten Linken und ist ihr unzertrennlicher
Gefährte. Ihm hauptsächlich verdanken die meisten Mitglieder für Böhmen ihre
Wahl, er ist der Agitator der deutschböhmischen Wahlkreise gewesen. Ein blasser,
blonder, junger Mann, kündigt seine äußere Erscheinung weder großen Geist noch
den Poeten an; er sieht sehr sanft und gutmüthig aus, als könne er keine Fliege
tödten, und doch declamirt er mit erhabenem Pathos ein Gedicht, das mit fol¬
genden Strophen endigt:

Gleich wie der Sturmwind, mächtig brausend,
Vom Aste reißt die faule Frucht,
So müssen viele Hunderttausend'
Vom Schwerte werden heimgesucht.
Nicht eher kommt uns Freud' und Heil,
Bis der Messias ist erschienen,
Der Wcltvcherrschcr durch das Beil
Vom rothen Thron der Guillotinen!--

Allgemeine Begeisterung bemächtigt sich der Gesellschaft; die Scheiben dröh¬
nen, Staub wirbelt empor, Gläser zersplittern, tolles Gejauchze schallt weithin
dnrch die Mitternacht, die Genialität entfaltet ihre kühnsten Schwingen -- lassen
Sie uns gehen, bester Freund. Wir gehören noch zu den Verständigen und Kal¬
ten, wir sind etwas älter als diese liebenswürdige Jugend, und der frische Wind,
der uns hier im Freien entgegenweht, nimmt uns eine schwere Beklemmung von


SttNjbot-n. IV. Isi". K2

Pflicht allzu wohl. Aber richten Sie Ihren Blick auf den jetzt eben Eintretenden;
das ist Vogt, der Professor von Gießen, der Atheist und Witzbold. Guten
Abend, sagt er mit tiefer Baßstimme, ergreift das erste beste Glas, leert es, und
fährt fort: Warum wäret Ihr nicht im Storchen zu Sachsenhauser? Famoser
Wein für zwölf Kreuzer. — Ah, Du hast also Deine Electricität wieder erhascht?
fragt Wcseudont, der ungeschickt darauf anspielen will, daß Vogt die Seelenthätig¬
keit nur für eine electrische Function hält. Stille, Freund, entgegnet dieser, Deine
Batterie ist so schlecht geladen, daß ich an Dir in meinem Glauben irre gewor¬
den bin. Minna, einen Schoppen. Und dann beginnt er eine moderne Opernarie
zu singen. Mit Vogt's Erscheinen ist ein neuer Geist in die Versammelten ge¬
fahren, Titus befreit zum ersten Male seinen Ellenbogen von der schweren Last
des Kopses, schüttelt die Mähnen und fängt an zu erwachen, Rösler führt irgend
einen Tanz aus, den er der Elster abgesehen haben will, und Simon sucht seinen
Freund Vogt, der bei Minna einen großen Stein im Brett zu haben scheint, zu
übertönen. Aus dem Zwielicht der entferntesten Ecke ringt sich aber noch eine
letzte Gruppe los und tritt hervor in die rothe Helle der Gasflamme. Es ist
Hentyes, der radikale Bierbrauermeister von Heilbronn, ein schlichter Schwabe,
der treue Hederich, einer der jugendlichen Deputirten Oestreichs, der seine politi¬
sche Farbe durch die seiner Halsbinde offen kundgeben zu müssen glaubt, und der
böhmische Dichter Alfred Meißner. Letzterer ist zwar kein Abgeordneter, aber
er gehört zum intimen Gefolge der äußersten Linken und ist ihr unzertrennlicher
Gefährte. Ihm hauptsächlich verdanken die meisten Mitglieder für Böhmen ihre
Wahl, er ist der Agitator der deutschböhmischen Wahlkreise gewesen. Ein blasser,
blonder, junger Mann, kündigt seine äußere Erscheinung weder großen Geist noch
den Poeten an; er sieht sehr sanft und gutmüthig aus, als könne er keine Fliege
tödten, und doch declamirt er mit erhabenem Pathos ein Gedicht, das mit fol¬
genden Strophen endigt:

Gleich wie der Sturmwind, mächtig brausend,
Vom Aste reißt die faule Frucht,
So müssen viele Hunderttausend'
Vom Schwerte werden heimgesucht.
Nicht eher kommt uns Freud' und Heil,
Bis der Messias ist erschienen,
Der Wcltvcherrschcr durch das Beil
Vom rothen Thron der Guillotinen!--

Allgemeine Begeisterung bemächtigt sich der Gesellschaft; die Scheiben dröh¬
nen, Staub wirbelt empor, Gläser zersplittern, tolles Gejauchze schallt weithin
dnrch die Mitternacht, die Genialität entfaltet ihre kühnsten Schwingen — lassen
Sie uns gehen, bester Freund. Wir gehören noch zu den Verständigen und Kal¬
ten, wir sind etwas älter als diese liebenswürdige Jugend, und der frische Wind,
der uns hier im Freien entgegenweht, nimmt uns eine schwere Beklemmung von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/493>, abgerufen am 22.07.2024.