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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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überwiegt. Groß und abscheulich! würde Nathan sagen. Aber das hindert den
abstrakten "Menschensohn" keineswegs -- wenigstens nicht seine Gläubigen --
zugleich durch ein detaillirtes Geschlechtsregister seine Familienangelegenheiten zu
reguliren. So ist es auch mit der christlichen Liebe; zuerst ganz allgemein, eine
Abstraction, ein bis dahin in der Geschichte unerhörtes Verlangen, alle Leute ohne
Unterschied der Person lieb zu haben, dann aber schon in der Apostelgeschichte,
den Panlinischen Briefen u. s. w. im Detail diese Liebe sehr gründlich modificirt
und in angemessenen Fällen in das Anathem verwandelt, das überall der Gläu¬
bige gegen den Andersdenkenden aussprechen muß. In der spätern Aufklärung hat
man diese Liebe, die namentlich den verlorenen Söhnen galt, den Zöllnern und
Sündern, in die Humanität verwandelt, die der Gebildete jedem Menschen gegen¬
über behauptet, da er in jedem sein Ebenbild erkennt, und die ihn gar nicht hin¬
dert, im vorkommenden Falle ihm feindlich zu begegnen.

Ich will mit diesen Reflexionen auf das einzig richtige Verhältniß hinweisen,
das wir unsern "heiligen Büchern" gegenüber einzunehmen haben. In Zeiten des
Fanatismus -- wie bei den englischen Puritanern -- nahm man sie Wort für
Wort als Vorbild und Muster und suchte dadurch den längst überwundenen bösen
Geist in's Leben zurückzubeschwvren. In der Zeit der Aufklärung setzte man dem
sittlichen Bewußtsein der Zeit jene dunkeln Bilder gegenüber, man sah in ihnen
nnr die Abstraktion, nur die natnrfeindliche Herrschaft des Geistes; man that ihnen
Unrecht, weil man in dem Verhältniß zu ihnen unfrei war und bei der Autorität,
die sie über die kirchliche Partei ausübten, unfrei sein mußte. In dem Nationalis¬
mus hat man dann versucht, sie auszulegen und mit gelinder Beseitigung aller ein¬
zelnen Widersprüche die sittliche Gesinnung der Zeit in sie einzuschwärzen. Man
hatte noch nicht die Kraft und den Muth, eine dem eigenen Bewußtsein entgegen¬
gesetzte Weltanschauung zu ertragen.

In unsern Zeiten ist die Gefahr, von Neuem in den Götzendienst einer der¬
artigen Abstraction zu gerathen, nicht so groß. Wir können uns daher mit Frei¬
heit zu ihr verhalten, wir können sie vom ästhetischen Standpunkt aus betrachten.
Wir werden sie weder im Allgemeinen hassen noch lieben noch bewundern, wir
werden sie in ihrer relativen Berechtigung zu begreifen wissen.

So ist es auch mit den Juden. Aus der alten Zeit der Knechtschaft hat
sich auch in unsere Tage, wo man die Befreiung aller Menschen, also auch die¬
ser durch das Vorurtheil eines Jahrtausends unterdrückten Classe, als die Haupt¬
aufgabe des Bewußtseins betrachtet, die Vorstellung übertragen, daß jeder Angriff
gegen die Juden als Angriff auf einen unterdrückten Stamm, zugleich ein Angriff
auf die Menschheit sei. In unserer bisherigen Literatur bestand ein großer Theil
der Vorkämpfer und mitunter die gescheutesten Federn, aus Juden, und man
durfte kaum den Namen Juden aussprechen, ohne sogleich zur Entschuldigung hin-
zuzusetzen, daß man entschieden für die Emancipation derselben sei. Mit dem


überwiegt. Groß und abscheulich! würde Nathan sagen. Aber das hindert den
abstrakten „Menschensohn" keineswegs — wenigstens nicht seine Gläubigen —
zugleich durch ein detaillirtes Geschlechtsregister seine Familienangelegenheiten zu
reguliren. So ist es auch mit der christlichen Liebe; zuerst ganz allgemein, eine
Abstraction, ein bis dahin in der Geschichte unerhörtes Verlangen, alle Leute ohne
Unterschied der Person lieb zu haben, dann aber schon in der Apostelgeschichte,
den Panlinischen Briefen u. s. w. im Detail diese Liebe sehr gründlich modificirt
und in angemessenen Fällen in das Anathem verwandelt, das überall der Gläu¬
bige gegen den Andersdenkenden aussprechen muß. In der spätern Aufklärung hat
man diese Liebe, die namentlich den verlorenen Söhnen galt, den Zöllnern und
Sündern, in die Humanität verwandelt, die der Gebildete jedem Menschen gegen¬
über behauptet, da er in jedem sein Ebenbild erkennt, und die ihn gar nicht hin¬
dert, im vorkommenden Falle ihm feindlich zu begegnen.

Ich will mit diesen Reflexionen auf das einzig richtige Verhältniß hinweisen,
das wir unsern „heiligen Büchern" gegenüber einzunehmen haben. In Zeiten des
Fanatismus — wie bei den englischen Puritanern — nahm man sie Wort für
Wort als Vorbild und Muster und suchte dadurch den längst überwundenen bösen
Geist in's Leben zurückzubeschwvren. In der Zeit der Aufklärung setzte man dem
sittlichen Bewußtsein der Zeit jene dunkeln Bilder gegenüber, man sah in ihnen
nnr die Abstraktion, nur die natnrfeindliche Herrschaft des Geistes; man that ihnen
Unrecht, weil man in dem Verhältniß zu ihnen unfrei war und bei der Autorität,
die sie über die kirchliche Partei ausübten, unfrei sein mußte. In dem Nationalis¬
mus hat man dann versucht, sie auszulegen und mit gelinder Beseitigung aller ein¬
zelnen Widersprüche die sittliche Gesinnung der Zeit in sie einzuschwärzen. Man
hatte noch nicht die Kraft und den Muth, eine dem eigenen Bewußtsein entgegen¬
gesetzte Weltanschauung zu ertragen.

In unsern Zeiten ist die Gefahr, von Neuem in den Götzendienst einer der¬
artigen Abstraction zu gerathen, nicht so groß. Wir können uns daher mit Frei¬
heit zu ihr verhalten, wir können sie vom ästhetischen Standpunkt aus betrachten.
Wir werden sie weder im Allgemeinen hassen noch lieben noch bewundern, wir
werden sie in ihrer relativen Berechtigung zu begreifen wissen.

So ist es auch mit den Juden. Aus der alten Zeit der Knechtschaft hat
sich auch in unsere Tage, wo man die Befreiung aller Menschen, also auch die¬
ser durch das Vorurtheil eines Jahrtausends unterdrückten Classe, als die Haupt¬
aufgabe des Bewußtseins betrachtet, die Vorstellung übertragen, daß jeder Angriff
gegen die Juden als Angriff auf einen unterdrückten Stamm, zugleich ein Angriff
auf die Menschheit sei. In unserer bisherigen Literatur bestand ein großer Theil
der Vorkämpfer und mitunter die gescheutesten Federn, aus Juden, und man
durfte kaum den Namen Juden aussprechen, ohne sogleich zur Entschuldigung hin-
zuzusetzen, daß man entschieden für die Emancipation derselben sei. Mit dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/27>, abgerufen am 22.07.2024.