Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.quält; vor dieser Bezeichnung muß man sich aber hüten, denn bei aller Gutmüthigkeit Diese Eigenthümlichkeit ist eS, die der Wiener Revolution ihren specifischen Cha¬ quält; vor dieser Bezeichnung muß man sich aber hüten, denn bei aller Gutmüthigkeit Diese Eigenthümlichkeit ist eS, die der Wiener Revolution ihren specifischen Cha¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="2"> <pb facs="#f0134" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/276890"/> <p xml:id="ID_377" prev="#ID_376"> quält; vor dieser Bezeichnung muß man sich aber hüten, denn bei aller Gutmüthigkeit<lb/> des Wiener Volkes herrscht hier gegenwärtig ein gelinder Terrorismus; die Ermordung<lb/> des unglücklichen Latour am K. October hat deutlich genug gezeugt, daß auch in dem<lb/> Wiener Volk ein bestialisches Element schlummert, das man nicht wecken darf, und ge¬<lb/> rade weil das Volk sich über den eigentlichen Gegenstand seines Hasses so unklar ist,<lb/> und sich der Natur der Sache nach mit abstracten Begriffen nicht gern abgibt, fühlt<lb/> eS eine Art Befriedigung, wenn es seine Leidenschaft einmal an einem concreten Ob¬<lb/> ject auflasten kann, und macht sich eben keine Scrupel darüber, ob es Cinna der Poet<lb/> oder Ciuna der Verschwörer ist, den es gerade todtschlägt; dem ruhigen Beobachter,<lb/> der von dem allgemeinen Taumel nicht fortgerissen wird, muß unter dieser gewaltigen,<lb/> bewaffneten Masse, die alle Tugenden und alle Fehler eines immerhin gutgearteten Kin¬<lb/> des hat, ungefähr so zu Muthe sein, wie Gulliver in der Gesellschaft des riesigen<lb/> Brobdignagsäuglings, der ihn jeden Augenblick in aller Unschuld zu seiner bloßen Un¬<lb/> terhaltung in den Mund stecken kann. Daß ein Zustand, wie der gegenwärtige, auf<lb/> die Länge nicht haltbar ist, daran denken die Wenigsten; weil das Volk sich bis jetzt<lb/> im Ganzen wirklich musterhaft benommen hat, glauben sie, es wird in derselben Weise<lb/> fortgehen, und freuen sich, daß wir hier „fast" Republik haben und daß die „schwarz¬<lb/> gelben" endlich einmal gründlich eingeschüchtert sind. Und doch wäre es bei alledem<lb/> Unrecht, den tiefen sittlichen Sinn, der der Wiener Bevölkerung zu Grunde liegt, zu<lb/> verkennen; es ist viel Fanatismus da, aber es ist der Fanatismus der Ehrlichkeit, des<lb/> Hasses gegen das alte Lügensystcm mit Allem was ihm angehörte, der hier so tief ge¬<lb/> wurzelt ist, wie nirgend anderswo, aber auch nirgends mehr Berechtigung hatte, als<lb/> hier. Die Wiener Ultra's — ich spreche hier von der ganze Masse, denn im Einzel¬<lb/> nen fehlt es hier auch nicht an durchaus verschrobenen Köpfen und Industrierittern der<lb/> Revolution, die das Volk absichtlich dupiren — sind Kinder in der Politik, und des¬<lb/> halb auch moralische Nigoristen. wie Kinder es in der Regel sind; dieser Rigorismus<lb/> geht so weit, daß sie selbst Gewandtheit und staatsmännische Befähigung mit einem<lb/> gewissen Mißtrauen betrachten, weil sie dahinter Falschheit und Verstecktheit wittern;<lb/> daher kommt es, daß die bedeutendsten Kapacitäten wie z. B. Pillersdorf, ein Mann,<lb/> eben so ausgezeichnet dnrch sein parlamentarisches wie staatsmännisches Talent, wie durch<lb/> seine vollendete Humanität und Freisimiigkeit, für den Augenblick unmöglich sind; da¬<lb/> gegen genießt Hornbostl, ein durchaus ehrenwerther, aber keineswegs politisch bedeu¬<lb/> tender Mann ein solches Vertrauen, daß die Kammer ihn durch Acclamation nöthigte,<lb/> seine angebotene Resignation als Minister zurückzunehmen, wiewohl er mit einer Offen¬<lb/> heit, die ihm alle Ehre macht, erklärte, daß er sich einem so schwierigen Posten unter<lb/> den gegenwärtigen Umständen nicht gewachsen fühle.</p><lb/> <p xml:id="ID_378" next="#ID_379"> Diese Eigenthümlichkeit ist eS, die der Wiener Revolution ihren specifischen Cha¬<lb/> rakter gibt und eine Erscheinung möglich machte wie sie die Welt noch nicht gesehen<lb/> hat und schwerlich jemals wieder sehen wird; ihr verdankt die akademische Le¬<lb/> gion ihre immense Popularität; die Masse des Volks sieht nämlich in den Studen¬<lb/> ten den reinsten Ausdruck ihres eigenen Wesens, und folgt ihnen deshalb mit einer<lb/> wahrhaft rührenden Anhänglichkeit; ans der Aula wimmelt es den ganzen Tag von<lb/> Leuten, die von dem Studentenausschuß sich Befehle und Weisungen einholen, dort<lb/> werden Rapporte von den verschiedenen Posten abgestattet, dorthin werden Vorräthe,<lb/> die man anderswo nicht für sicher hält, hingebracht, dort ist ein sicheres Asyl für alle<lb/> Gefangenen; so befinden sich, z. B. drei kaiserliche Generäle unter dem Schutz der Aula,<lb/> unter andern der Freiherr von Recsey, der als improvisirtcr Ministerpräsident das<lb/> kaiserliche Manifest contrafignirte, welches die Revolution zunächst veranlaßte; der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0134]
quält; vor dieser Bezeichnung muß man sich aber hüten, denn bei aller Gutmüthigkeit
des Wiener Volkes herrscht hier gegenwärtig ein gelinder Terrorismus; die Ermordung
des unglücklichen Latour am K. October hat deutlich genug gezeugt, daß auch in dem
Wiener Volk ein bestialisches Element schlummert, das man nicht wecken darf, und ge¬
rade weil das Volk sich über den eigentlichen Gegenstand seines Hasses so unklar ist,
und sich der Natur der Sache nach mit abstracten Begriffen nicht gern abgibt, fühlt
eS eine Art Befriedigung, wenn es seine Leidenschaft einmal an einem concreten Ob¬
ject auflasten kann, und macht sich eben keine Scrupel darüber, ob es Cinna der Poet
oder Ciuna der Verschwörer ist, den es gerade todtschlägt; dem ruhigen Beobachter,
der von dem allgemeinen Taumel nicht fortgerissen wird, muß unter dieser gewaltigen,
bewaffneten Masse, die alle Tugenden und alle Fehler eines immerhin gutgearteten Kin¬
des hat, ungefähr so zu Muthe sein, wie Gulliver in der Gesellschaft des riesigen
Brobdignagsäuglings, der ihn jeden Augenblick in aller Unschuld zu seiner bloßen Un¬
terhaltung in den Mund stecken kann. Daß ein Zustand, wie der gegenwärtige, auf
die Länge nicht haltbar ist, daran denken die Wenigsten; weil das Volk sich bis jetzt
im Ganzen wirklich musterhaft benommen hat, glauben sie, es wird in derselben Weise
fortgehen, und freuen sich, daß wir hier „fast" Republik haben und daß die „schwarz¬
gelben" endlich einmal gründlich eingeschüchtert sind. Und doch wäre es bei alledem
Unrecht, den tiefen sittlichen Sinn, der der Wiener Bevölkerung zu Grunde liegt, zu
verkennen; es ist viel Fanatismus da, aber es ist der Fanatismus der Ehrlichkeit, des
Hasses gegen das alte Lügensystcm mit Allem was ihm angehörte, der hier so tief ge¬
wurzelt ist, wie nirgend anderswo, aber auch nirgends mehr Berechtigung hatte, als
hier. Die Wiener Ultra's — ich spreche hier von der ganze Masse, denn im Einzel¬
nen fehlt es hier auch nicht an durchaus verschrobenen Köpfen und Industrierittern der
Revolution, die das Volk absichtlich dupiren — sind Kinder in der Politik, und des¬
halb auch moralische Nigoristen. wie Kinder es in der Regel sind; dieser Rigorismus
geht so weit, daß sie selbst Gewandtheit und staatsmännische Befähigung mit einem
gewissen Mißtrauen betrachten, weil sie dahinter Falschheit und Verstecktheit wittern;
daher kommt es, daß die bedeutendsten Kapacitäten wie z. B. Pillersdorf, ein Mann,
eben so ausgezeichnet dnrch sein parlamentarisches wie staatsmännisches Talent, wie durch
seine vollendete Humanität und Freisimiigkeit, für den Augenblick unmöglich sind; da¬
gegen genießt Hornbostl, ein durchaus ehrenwerther, aber keineswegs politisch bedeu¬
tender Mann ein solches Vertrauen, daß die Kammer ihn durch Acclamation nöthigte,
seine angebotene Resignation als Minister zurückzunehmen, wiewohl er mit einer Offen¬
heit, die ihm alle Ehre macht, erklärte, daß er sich einem so schwierigen Posten unter
den gegenwärtigen Umständen nicht gewachsen fühle.
Diese Eigenthümlichkeit ist eS, die der Wiener Revolution ihren specifischen Cha¬
rakter gibt und eine Erscheinung möglich machte wie sie die Welt noch nicht gesehen
hat und schwerlich jemals wieder sehen wird; ihr verdankt die akademische Le¬
gion ihre immense Popularität; die Masse des Volks sieht nämlich in den Studen¬
ten den reinsten Ausdruck ihres eigenen Wesens, und folgt ihnen deshalb mit einer
wahrhaft rührenden Anhänglichkeit; ans der Aula wimmelt es den ganzen Tag von
Leuten, die von dem Studentenausschuß sich Befehle und Weisungen einholen, dort
werden Rapporte von den verschiedenen Posten abgestattet, dorthin werden Vorräthe,
die man anderswo nicht für sicher hält, hingebracht, dort ist ein sicheres Asyl für alle
Gefangenen; so befinden sich, z. B. drei kaiserliche Generäle unter dem Schutz der Aula,
unter andern der Freiherr von Recsey, der als improvisirtcr Ministerpräsident das
kaiserliche Manifest contrafignirte, welches die Revolution zunächst veranlaßte; der
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