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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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gleich von der Herstellung der alten Reichsgrenzen, und sind gar nicht abgeneigt,
Schlesien, Preußen u. s. w. dem Reich, das noch gar nicht besteht, wieder ein¬
zuverleiben. -

Natürlich sprechen dies nur die Exaltirten unter ihnen aus; aber phantastisch
genug ist die ganze Nation, um ähnliche Gedanken zu hegen. Außerdem ist die
deutsche Bevölkerung des Großherzogthums, durch die Anmaßungen ihrer pol¬
nischen Mitbürger -- die man in einzelnen Fällen selbst, abgesehen von den Ex.
cesser des Pöbels, geradezu Unverschämtheit nennen kann, wie z. B. den Versuch
des polnischen Comites, die Landräthe selbst der deutschen Kreise, wie in Lissa,
aus eigner Machtvollkommenheit abzusetzen -- sie ist durch diese Eingriffe so auf¬
geregt, daß sie in der Wiederherstellung des Königreichs ihren eigenen Untergang
sieht und alles aufbietet, die Pläne der Polenfreunde zu hintertreiben.

Wir wollen uns von der Leidenschaftlichkeit ans beiden Seiten nicht bestimmen
lassen; in der Politik soll der klare Verstand entscheiden, und nicht das Gefühl,
man soll nach Principien urtheilen, nicht nach Sympathien. Stellen wir zunächst
unsern Gesichtspunkt fest.

Es ist eine in unserm romantischen Säculum ziemlich weit verbreitete Phrase:
wir müssen die Sünden unserer Väter über uns nehmen und freiwillig leiden für
das, was jene gefehlt. Dieser Satz ist eben so richtig wie verkehrt; richtig, denn
wir können mit unserer Vergangenheit nicht brechen, auch wenn wir wollen, weil
die Vergangenheit nicht mit uns bricht; verkehrt, denn so viel an uns ist, wollen
wir nicht leiden unter den Sünden unserer Väter, wir wollen z. B. den Polen
das Unrecht, das die alten, absoluten Mächte ihnen zugefügt haben, nicht vergüten,
und es bedarf gar nicht der hochfahrenden Großmuth der Ncupolen, uns unsere
Schuld zu erlassen; wir erkennen sie nicht an. Haben die Monarchen durch ihre
Usurpation gesündigt, so haben die Polen dieselbe Schuld durch ihr erbärm¬
liches Staatswesen, das die Usurpation möglich machte; das eine gleicht das an¬
dere aus.

Wir wollen also, ohne allen sentimentalen Rückblick auf die Vergangenheit,
uns lediglich und ausschließlich durch unser Interesse bestimmen lassen. Das
vernünftig verstandene Interesse eines Volks kann dem eines andern nie
im Wege sein.

Die Frage wäre viel leichter festzustellen, wenn das "Wir," "unser Inter¬
esse" genauer constatirt wäre. Wir, das deutsche Volk, sind vorläufig noch ein
Begriff; trotz all' der deutschen Revolutionen, trotz der Frankfurter Notabeln,
und trotz der Tricolore, die zu Wien ans dem Stephansthurm weht, ist das deut¬
sche Reich noch immer vorläufig in "mUbus inliäelium. Wir haben uns also zu¬
nächst darüber aufzuklären: was soll Preußen, was soll Oestreich thun?

Natürlich das neue Preußen, das neue Oestreich; denn der absolute Staat
Friedrich des Großen, der Kaiserstaat Metternichs, sind in den glorreichen März-


gleich von der Herstellung der alten Reichsgrenzen, und sind gar nicht abgeneigt,
Schlesien, Preußen u. s. w. dem Reich, das noch gar nicht besteht, wieder ein¬
zuverleiben. -

Natürlich sprechen dies nur die Exaltirten unter ihnen aus; aber phantastisch
genug ist die ganze Nation, um ähnliche Gedanken zu hegen. Außerdem ist die
deutsche Bevölkerung des Großherzogthums, durch die Anmaßungen ihrer pol¬
nischen Mitbürger — die man in einzelnen Fällen selbst, abgesehen von den Ex.
cesser des Pöbels, geradezu Unverschämtheit nennen kann, wie z. B. den Versuch
des polnischen Comites, die Landräthe selbst der deutschen Kreise, wie in Lissa,
aus eigner Machtvollkommenheit abzusetzen — sie ist durch diese Eingriffe so auf¬
geregt, daß sie in der Wiederherstellung des Königreichs ihren eigenen Untergang
sieht und alles aufbietet, die Pläne der Polenfreunde zu hintertreiben.

Wir wollen uns von der Leidenschaftlichkeit ans beiden Seiten nicht bestimmen
lassen; in der Politik soll der klare Verstand entscheiden, und nicht das Gefühl,
man soll nach Principien urtheilen, nicht nach Sympathien. Stellen wir zunächst
unsern Gesichtspunkt fest.

Es ist eine in unserm romantischen Säculum ziemlich weit verbreitete Phrase:
wir müssen die Sünden unserer Väter über uns nehmen und freiwillig leiden für
das, was jene gefehlt. Dieser Satz ist eben so richtig wie verkehrt; richtig, denn
wir können mit unserer Vergangenheit nicht brechen, auch wenn wir wollen, weil
die Vergangenheit nicht mit uns bricht; verkehrt, denn so viel an uns ist, wollen
wir nicht leiden unter den Sünden unserer Väter, wir wollen z. B. den Polen
das Unrecht, das die alten, absoluten Mächte ihnen zugefügt haben, nicht vergüten,
und es bedarf gar nicht der hochfahrenden Großmuth der Ncupolen, uns unsere
Schuld zu erlassen; wir erkennen sie nicht an. Haben die Monarchen durch ihre
Usurpation gesündigt, so haben die Polen dieselbe Schuld durch ihr erbärm¬
liches Staatswesen, das die Usurpation möglich machte; das eine gleicht das an¬
dere aus.

Wir wollen also, ohne allen sentimentalen Rückblick auf die Vergangenheit,
uns lediglich und ausschließlich durch unser Interesse bestimmen lassen. Das
vernünftig verstandene Interesse eines Volks kann dem eines andern nie
im Wege sein.

Die Frage wäre viel leichter festzustellen, wenn das „Wir," „unser Inter¬
esse" genauer constatirt wäre. Wir, das deutsche Volk, sind vorläufig noch ein
Begriff; trotz all' der deutschen Revolutionen, trotz der Frankfurter Notabeln,
und trotz der Tricolore, die zu Wien ans dem Stephansthurm weht, ist das deut¬
sche Reich noch immer vorläufig in »mUbus inliäelium. Wir haben uns also zu¬
nächst darüber aufzuklären: was soll Preußen, was soll Oestreich thun?

Natürlich das neue Preußen, das neue Oestreich; denn der absolute Staat
Friedrich des Großen, der Kaiserstaat Metternichs, sind in den glorreichen März-


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[0058] gleich von der Herstellung der alten Reichsgrenzen, und sind gar nicht abgeneigt, Schlesien, Preußen u. s. w. dem Reich, das noch gar nicht besteht, wieder ein¬ zuverleiben. - Natürlich sprechen dies nur die Exaltirten unter ihnen aus; aber phantastisch genug ist die ganze Nation, um ähnliche Gedanken zu hegen. Außerdem ist die deutsche Bevölkerung des Großherzogthums, durch die Anmaßungen ihrer pol¬ nischen Mitbürger — die man in einzelnen Fällen selbst, abgesehen von den Ex. cesser des Pöbels, geradezu Unverschämtheit nennen kann, wie z. B. den Versuch des polnischen Comites, die Landräthe selbst der deutschen Kreise, wie in Lissa, aus eigner Machtvollkommenheit abzusetzen — sie ist durch diese Eingriffe so auf¬ geregt, daß sie in der Wiederherstellung des Königreichs ihren eigenen Untergang sieht und alles aufbietet, die Pläne der Polenfreunde zu hintertreiben. Wir wollen uns von der Leidenschaftlichkeit ans beiden Seiten nicht bestimmen lassen; in der Politik soll der klare Verstand entscheiden, und nicht das Gefühl, man soll nach Principien urtheilen, nicht nach Sympathien. Stellen wir zunächst unsern Gesichtspunkt fest. Es ist eine in unserm romantischen Säculum ziemlich weit verbreitete Phrase: wir müssen die Sünden unserer Väter über uns nehmen und freiwillig leiden für das, was jene gefehlt. Dieser Satz ist eben so richtig wie verkehrt; richtig, denn wir können mit unserer Vergangenheit nicht brechen, auch wenn wir wollen, weil die Vergangenheit nicht mit uns bricht; verkehrt, denn so viel an uns ist, wollen wir nicht leiden unter den Sünden unserer Väter, wir wollen z. B. den Polen das Unrecht, das die alten, absoluten Mächte ihnen zugefügt haben, nicht vergüten, und es bedarf gar nicht der hochfahrenden Großmuth der Ncupolen, uns unsere Schuld zu erlassen; wir erkennen sie nicht an. Haben die Monarchen durch ihre Usurpation gesündigt, so haben die Polen dieselbe Schuld durch ihr erbärm¬ liches Staatswesen, das die Usurpation möglich machte; das eine gleicht das an¬ dere aus. Wir wollen also, ohne allen sentimentalen Rückblick auf die Vergangenheit, uns lediglich und ausschließlich durch unser Interesse bestimmen lassen. Das vernünftig verstandene Interesse eines Volks kann dem eines andern nie im Wege sein. Die Frage wäre viel leichter festzustellen, wenn das „Wir," „unser Inter¬ esse" genauer constatirt wäre. Wir, das deutsche Volk, sind vorläufig noch ein Begriff; trotz all' der deutschen Revolutionen, trotz der Frankfurter Notabeln, und trotz der Tricolore, die zu Wien ans dem Stephansthurm weht, ist das deut¬ sche Reich noch immer vorläufig in »mUbus inliäelium. Wir haben uns also zu¬ nächst darüber aufzuklären: was soll Preußen, was soll Oestreich thun? Natürlich das neue Preußen, das neue Oestreich; denn der absolute Staat Friedrich des Großen, der Kaiserstaat Metternichs, sind in den glorreichen März-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/58>, abgerufen am 23.07.2024.