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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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stungen des Königstädter Theaters, die Herzen des Spandauer Viertels und der
angrenzenden Stadttheile gewonnen hatte. Auch bei Gelegenheit der Central- und
Localvereine ist er für die Armuth wahrer Vertreter des gesetzlichen Fortschritts
gewesen. Herr Stich er, berühmt durch den Conflict seiner polizeilichen und ju¬
ristischen Funktionen, wie später durch seine glänzenden Vertheidigungen, über die
er selber in der Vosstschen referirte, stand ihm darin zur Seite. Von Wöniger
war auch theilweise die Adresse ausgegangen, welche der Thierarzt Urban, ein
ziemlich populärer Mann mit stark phantastischem Anstrich, der dem Volk dnrch
einen sehr langen Bart und eine Toga, wie die polnischen Juden sie tragen, im-
ponirt, und der Schneider Eckardt an den König richteten, er Möge das Militär
wieder in die Stadt kommen lassen. Die Bürgergarde, durch Herrn v. Minntoli
befragt, stimmte zum größern Theil damit überein; der Dienst ermüdete sie na¬
türlich, da man sie viel unnöthige Wachen beziehen ließ, und da man sich doch
nicht getraute, das niedere Volk zu bewaffnen. Bei der großen Gährung, die im
Volk herrscht, hatte Herr Urban am vorigen Sonntag eine allgemeine Arbeitcrver-
sammlung auf dem Platz vor dem Schönhauser Thor berufen. Es hatten sich
wohl über 1000 Menschen versammelt, Urban hielt eine Friedenspredigt und stellte
die drei Berliner Landtagsdeputirten dem Publikum vor, indem er versicherte, daß
sie das Vertrauen des Volkes hätten. Die Arbeiter sollten, jeder von seinem Ge-
werk, aussprechen, was ihnen am Herzen läge. Einer nach dem andern stieg auf
die Tribune, und erklärte, wie viel er Zulage, und wie viel Stunden weniger
Arbeit er wünsche. Mehr Lohn, weniger Arbeit, das ist das Natürlichste, worauf
man unter diesen Umständen kommt. Es war ermüdend genug, diese wechselnden
Einfälle anzuhören, die doch zu keinem Resultat führen konnten, als plötzlich ein
Schriftsetzer aus Breslau, Herr Brill, auf die Tribune stieg, und erklärte, er
wolle hier nicht über sein specielles Metier sprechen, denn das könne doch das ein¬
zelne Gewerk am besten abmachen. Umsonst suchte Urban ihn am Weitersprechen
zu hindern. Brill erzwang sich das Wort, und setzte auseinander, wie Erhöhung
des Lohnes mit Verminderung der Arbeit eine Unmöglichkeit sei, weil dadurch die
Meister mit sammt den Gesellen ruinirt würden. Die Wurzel des Uebels liege
tiefer, in den Grundlagen des Staats. Was dem Arbeiter allein aushelfen könne,
seien folgende Punkte:

1) Organisation der Arbeit. Es solle ein Arbeiterministerium gebildet wer¬
den, aus Arbeitern selbst gewählt, welches seine unteren Behörden nach allen
Städten hin verzweige. Hier solle jeder Arbeiter Nachweis und Förderung finden,
und eine Provinz solle die andere ergänzen.

2) Der Arbeiter sei nicht im Stande, sich selber zu helfen, weil er nicht ge¬
bildet genug sei. Der Arme könne an dem Unterricht nicht Theil nehmen. Der
Staat sei also verpflichtet, eine Volkserziehung aus seine Kosten zu organistren.
Die vorige Regierung habe das Volk dadurch geblendet und in Unthätigkeit ge-


stungen des Königstädter Theaters, die Herzen des Spandauer Viertels und der
angrenzenden Stadttheile gewonnen hatte. Auch bei Gelegenheit der Central- und
Localvereine ist er für die Armuth wahrer Vertreter des gesetzlichen Fortschritts
gewesen. Herr Stich er, berühmt durch den Conflict seiner polizeilichen und ju¬
ristischen Funktionen, wie später durch seine glänzenden Vertheidigungen, über die
er selber in der Vosstschen referirte, stand ihm darin zur Seite. Von Wöniger
war auch theilweise die Adresse ausgegangen, welche der Thierarzt Urban, ein
ziemlich populärer Mann mit stark phantastischem Anstrich, der dem Volk dnrch
einen sehr langen Bart und eine Toga, wie die polnischen Juden sie tragen, im-
ponirt, und der Schneider Eckardt an den König richteten, er Möge das Militär
wieder in die Stadt kommen lassen. Die Bürgergarde, durch Herrn v. Minntoli
befragt, stimmte zum größern Theil damit überein; der Dienst ermüdete sie na¬
türlich, da man sie viel unnöthige Wachen beziehen ließ, und da man sich doch
nicht getraute, das niedere Volk zu bewaffnen. Bei der großen Gährung, die im
Volk herrscht, hatte Herr Urban am vorigen Sonntag eine allgemeine Arbeitcrver-
sammlung auf dem Platz vor dem Schönhauser Thor berufen. Es hatten sich
wohl über 1000 Menschen versammelt, Urban hielt eine Friedenspredigt und stellte
die drei Berliner Landtagsdeputirten dem Publikum vor, indem er versicherte, daß
sie das Vertrauen des Volkes hätten. Die Arbeiter sollten, jeder von seinem Ge-
werk, aussprechen, was ihnen am Herzen läge. Einer nach dem andern stieg auf
die Tribune, und erklärte, wie viel er Zulage, und wie viel Stunden weniger
Arbeit er wünsche. Mehr Lohn, weniger Arbeit, das ist das Natürlichste, worauf
man unter diesen Umständen kommt. Es war ermüdend genug, diese wechselnden
Einfälle anzuhören, die doch zu keinem Resultat führen konnten, als plötzlich ein
Schriftsetzer aus Breslau, Herr Brill, auf die Tribune stieg, und erklärte, er
wolle hier nicht über sein specielles Metier sprechen, denn das könne doch das ein¬
zelne Gewerk am besten abmachen. Umsonst suchte Urban ihn am Weitersprechen
zu hindern. Brill erzwang sich das Wort, und setzte auseinander, wie Erhöhung
des Lohnes mit Verminderung der Arbeit eine Unmöglichkeit sei, weil dadurch die
Meister mit sammt den Gesellen ruinirt würden. Die Wurzel des Uebels liege
tiefer, in den Grundlagen des Staats. Was dem Arbeiter allein aushelfen könne,
seien folgende Punkte:

1) Organisation der Arbeit. Es solle ein Arbeiterministerium gebildet wer¬
den, aus Arbeitern selbst gewählt, welches seine unteren Behörden nach allen
Städten hin verzweige. Hier solle jeder Arbeiter Nachweis und Förderung finden,
und eine Provinz solle die andere ergänzen.

2) Der Arbeiter sei nicht im Stande, sich selber zu helfen, weil er nicht ge¬
bildet genug sei. Der Arme könne an dem Unterricht nicht Theil nehmen. Der
Staat sei also verpflichtet, eine Volkserziehung aus seine Kosten zu organistren.
Die vorige Regierung habe das Volk dadurch geblendet und in Unthätigkeit ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/30>, abgerufen am 23.07.2024.