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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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auch im Einzelnen dafür sagen ließe, ans die gegenwärtige Stimmung zu wenig
berechnet sein dürste.

Den Hauptsitz hat die radicale Partei in dem "politischen Club," der sich zu¬
erst im Hotel de Russie, jetzt in dem schonen Mielentzschen Saal versammelt. Diese
schönen Räume hätten es sich vor kurzer Zeit auch wohl nicht träumen lassen, daß
sie von einigen Tausenden aufgeregter Politiker, die ebenso aufgeregt rauchen als
sprechen, verfinstert werden würden. Der Club ging ursprünglich von den Libera¬
len aus, die schon früher in der Presse für die Sache der neuen Entwickelung ge¬
kämpft hatten, es haben sich seitdem auch viele andere angeschlossen, doch betrug
die Zahl, so lang ich da war, immer nur einige Hundert. Dagegen stellte sich je¬
desmal eine ungeheure Menge Zuhörer ein, die wenigstens durch Acclamationen
an der Versammlung Theil "ahmen. Der Club hat sich jetzt vollständig organisirt,
er hält alle Tage Sitzung; sucht Filialclubs in den Provinzen zu errichten und
gibt ein kleines Flugblatt heraus -- ich habe nur das erste Blatt gelesen, das
sehr gut geschrieben war, wenn ich nicht irre, von H. Assessor Jung. Nur die
Mitglieder dürfen mitsprechen; doch geht zuweilen der Club in die größere Volks¬
versammlung auf, die in demselben Local gehalten wird. Vorsitzender ist H. Eich¬
ler, ein Literat, der sich an den Barricaden ausgezeichnet hat, sein Stellvertreter,
Dr. Ruthenberg, ehemals Redacteur der Rheinischen Zeitung, jetzt Redacteur der
neuen Berliner Nationalzeitung, von der ich seltsamer Weise in Leipzig noch kein
Exemplar gesehen habe. Das bedeutendste Rednertalent -- wenn ich aus den we¬
nigen Versammlungen, denen ich beizuwohnen Gelegenheit hatte, schließen darf,
ist H. v. Brandt, ein junger Mann mit hellblonden Haar und etwas aristokrati¬
schem Anstrich, der mit entschiedener dialektischer Schärfe ein nicht gemeines Feuer
vereinigt. Von der Aufregung, die in diesen Sitzungen herrscht, kann man sich aus
den magern Berichten der Zeitungen keinen Begriff machen; namentlich wenn man
aus Leipzig kommt, wo auch die radicalste Ansicht durch deu Vortrag einen salbungs¬
vollen Anstrich annimmt, wird man von der Energie und Leidenschaftlichkeit dieser
Debatten ebenso überrascht wie fortgerissen. Mitunter gewinnt die Versammlung
freilich etwas den Anschein eines Polnischen Reichstags -- doch gilt dies mehr
von der größern Versammlung, wenn ein Mann prästdirt, der durch seine Persön¬
lichkeit weniger geeignet ist, die feurigen Köpfe zu dominiren. So war es in der
Versammlung, in welcher der phantastische Vorschlag der unmittelbaren Einberufung
eines Nationalconvents zuerst angenommen wurde -- ob von der Majorität oder
Minorität kann ich nicht sagen. Herr v. Holzendorf, bekannt durch die von
ihm veranlaßte Bauernadresse, präsidirte in demselben. Hier war es auch, wo ein
Pole auftrat, die Berliner ernstlich wegen ihres Säumens zu Rede stellte, und ge¬
radezu drohte, wenn nicht bald für Polen etwas geschähe, so würde sich die pol¬
nische Bevölkerung Posens auf die Deutschen stürzen. Statt der derben Abferti¬
gung, die eine solche Sprache verdiente, fand ein sentimentaler Act der Fraternist-


auch im Einzelnen dafür sagen ließe, ans die gegenwärtige Stimmung zu wenig
berechnet sein dürste.

Den Hauptsitz hat die radicale Partei in dem „politischen Club," der sich zu¬
erst im Hotel de Russie, jetzt in dem schonen Mielentzschen Saal versammelt. Diese
schönen Räume hätten es sich vor kurzer Zeit auch wohl nicht träumen lassen, daß
sie von einigen Tausenden aufgeregter Politiker, die ebenso aufgeregt rauchen als
sprechen, verfinstert werden würden. Der Club ging ursprünglich von den Libera¬
len aus, die schon früher in der Presse für die Sache der neuen Entwickelung ge¬
kämpft hatten, es haben sich seitdem auch viele andere angeschlossen, doch betrug
die Zahl, so lang ich da war, immer nur einige Hundert. Dagegen stellte sich je¬
desmal eine ungeheure Menge Zuhörer ein, die wenigstens durch Acclamationen
an der Versammlung Theil »ahmen. Der Club hat sich jetzt vollständig organisirt,
er hält alle Tage Sitzung; sucht Filialclubs in den Provinzen zu errichten und
gibt ein kleines Flugblatt heraus — ich habe nur das erste Blatt gelesen, das
sehr gut geschrieben war, wenn ich nicht irre, von H. Assessor Jung. Nur die
Mitglieder dürfen mitsprechen; doch geht zuweilen der Club in die größere Volks¬
versammlung auf, die in demselben Local gehalten wird. Vorsitzender ist H. Eich¬
ler, ein Literat, der sich an den Barricaden ausgezeichnet hat, sein Stellvertreter,
Dr. Ruthenberg, ehemals Redacteur der Rheinischen Zeitung, jetzt Redacteur der
neuen Berliner Nationalzeitung, von der ich seltsamer Weise in Leipzig noch kein
Exemplar gesehen habe. Das bedeutendste Rednertalent — wenn ich aus den we¬
nigen Versammlungen, denen ich beizuwohnen Gelegenheit hatte, schließen darf,
ist H. v. Brandt, ein junger Mann mit hellblonden Haar und etwas aristokrati¬
schem Anstrich, der mit entschiedener dialektischer Schärfe ein nicht gemeines Feuer
vereinigt. Von der Aufregung, die in diesen Sitzungen herrscht, kann man sich aus
den magern Berichten der Zeitungen keinen Begriff machen; namentlich wenn man
aus Leipzig kommt, wo auch die radicalste Ansicht durch deu Vortrag einen salbungs¬
vollen Anstrich annimmt, wird man von der Energie und Leidenschaftlichkeit dieser
Debatten ebenso überrascht wie fortgerissen. Mitunter gewinnt die Versammlung
freilich etwas den Anschein eines Polnischen Reichstags — doch gilt dies mehr
von der größern Versammlung, wenn ein Mann prästdirt, der durch seine Persön¬
lichkeit weniger geeignet ist, die feurigen Köpfe zu dominiren. So war es in der
Versammlung, in welcher der phantastische Vorschlag der unmittelbaren Einberufung
eines Nationalconvents zuerst angenommen wurde — ob von der Majorität oder
Minorität kann ich nicht sagen. Herr v. Holzendorf, bekannt durch die von
ihm veranlaßte Bauernadresse, präsidirte in demselben. Hier war es auch, wo ein
Pole auftrat, die Berliner ernstlich wegen ihres Säumens zu Rede stellte, und ge¬
radezu drohte, wenn nicht bald für Polen etwas geschähe, so würde sich die pol¬
nische Bevölkerung Posens auf die Deutschen stürzen. Statt der derben Abferti¬
gung, die eine solche Sprache verdiente, fand ein sentimentaler Act der Fraternist-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/28>, abgerufen am 23.07.2024.