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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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gesellschaftliche Einöden haben, gegenwärtig noch auf keiner hohen Stufe stehen,
dann von Süden und Osten her rohe Nationen mit ungeordneter in ewigen
Schwankungen begriffener Staatsverfassung, endlich nach Westen hin blos die
vereinzelten Strahlen und EommuuicationSwege der Bildung, die vom germani¬
schen Kerne ausliefen! Was Wunder also, wenn die Eroberer der Ostseeprovin-
zen, sich selber überlassen und außer dem Bereiche einer sie überwachenden Intel¬
ligenz, ihre energisch-dämonischen Kräfte gegen die Menschheit in ihrer Nähe los¬
ließen, um sie in ihren vollständigen Dienst zu zwingen. Gewiß, dies Alles dient
zur Entschuldigung der jetzigen Verhältnisse. Bauer und Edelmann erndtet den
ganzen Unsegen der frühern Zeit, die mit ihren nachtheiligen Folgen in die
Gegenwart hineinragt. Wie viele Gutsbesitzer gibt es dort gegenwärtig, die sich
durch liebenswürdige innere Bildung, durch feine zuvorkommende Geselligkeit und
dnrch ernstliche Theilnahme an den Interessen des Volks vor der widerlichen Ge¬
burtsarroganz anderer Länder auszeichnen. Aber was die Jahrhunderte verschul¬
deten, können eben so wenig einzelne Gebietöhcrren als die Prediger schnell wieder
gut macheu, die mau lächerlicherweise vom Standtpnukte eines auch in jenen Lan¬
den immer mehr um sich greifende" Pietismus anklagt, als ob sie durch ihren
Indifferentismus den Uebergriffen der griechischen Religion Vorschub geleistet hätten.

Die Folge jeues durch Eroberung herbeigeführten absoluten Abhängigkeitsvcr-
hältnisses aber war, daß die beiden nationalen Bestandtheile der hiesigen Bevöl¬
kerung, der lettische und deutsche, bis auf die neueste Zeit in Sprache, Sitte und
Gewohnheit durchaus vou einander getrennt blieben. Weit davon entfernt, erstem
an den Segnungen deutscher Bildung Theil nehmen zu lasse", ging man vielmehr
von dem Bestreben aus, dieselbe zu unterdrücken. Nur in einem gewissen Zustande
von Dumpfheit und Gefühllosigkeit meinte man, würde der Urbewohner dem Thiere
gleich die vom Herrn ihm aufgebürdeten Arbeiten zu Stande bringen. Wie oft
hat mau die Bemerkung gehört, daß mau dem Letten nichts weiß machen dürfe,
als sei er etwas, sonst würde er widerspenstig und lässig in seiner Arbeit. Und
was es mit den vermeintlichen Segnungen der Bildung für eine Bewandtniß habe,
könnte man leicht erfahren, wenn man sich nur einmal bei den soge"ärnten deut¬
schen Leuten umsehen wollte. Letztere siud freilich auch uicht viel besser gestellt als
die Letten. Arm aus ihrer Heimath hierher verpflanzt und ohne Grundbesitz
fristen sie durch ihrer Hände Arbeit ein kümmerliches Dasein, aber in Folge ihres
größern mit herübergebrachten Frcihcitsgefühles berufen sie sich dem Herrn gegen¬
über auf Rechte, die man erst wegdemvnstrireu muß, ehe man durch Kommando un¬
mittelbare Dienstleistung erhält. Und das ist dem Herrn bei sonstigem öftern Man¬
gel an Arbeitskräften sehr unbequem.

Die Leiden des Volks und seine Klagen waren von jeher so offenkundig, so
viel verzweigt und originell, daß man sich von deutscher Seite veranlaßt fühlte,
dieselben in das damalige Plattdeutsch zu übersetzen:


gesellschaftliche Einöden haben, gegenwärtig noch auf keiner hohen Stufe stehen,
dann von Süden und Osten her rohe Nationen mit ungeordneter in ewigen
Schwankungen begriffener Staatsverfassung, endlich nach Westen hin blos die
vereinzelten Strahlen und EommuuicationSwege der Bildung, die vom germani¬
schen Kerne ausliefen! Was Wunder also, wenn die Eroberer der Ostseeprovin-
zen, sich selber überlassen und außer dem Bereiche einer sie überwachenden Intel¬
ligenz, ihre energisch-dämonischen Kräfte gegen die Menschheit in ihrer Nähe los¬
ließen, um sie in ihren vollständigen Dienst zu zwingen. Gewiß, dies Alles dient
zur Entschuldigung der jetzigen Verhältnisse. Bauer und Edelmann erndtet den
ganzen Unsegen der frühern Zeit, die mit ihren nachtheiligen Folgen in die
Gegenwart hineinragt. Wie viele Gutsbesitzer gibt es dort gegenwärtig, die sich
durch liebenswürdige innere Bildung, durch feine zuvorkommende Geselligkeit und
dnrch ernstliche Theilnahme an den Interessen des Volks vor der widerlichen Ge¬
burtsarroganz anderer Länder auszeichnen. Aber was die Jahrhunderte verschul¬
deten, können eben so wenig einzelne Gebietöhcrren als die Prediger schnell wieder
gut macheu, die mau lächerlicherweise vom Standtpnukte eines auch in jenen Lan¬
den immer mehr um sich greifende» Pietismus anklagt, als ob sie durch ihren
Indifferentismus den Uebergriffen der griechischen Religion Vorschub geleistet hätten.

Die Folge jeues durch Eroberung herbeigeführten absoluten Abhängigkeitsvcr-
hältnisses aber war, daß die beiden nationalen Bestandtheile der hiesigen Bevöl¬
kerung, der lettische und deutsche, bis auf die neueste Zeit in Sprache, Sitte und
Gewohnheit durchaus vou einander getrennt blieben. Weit davon entfernt, erstem
an den Segnungen deutscher Bildung Theil nehmen zu lasse», ging man vielmehr
von dem Bestreben aus, dieselbe zu unterdrücken. Nur in einem gewissen Zustande
von Dumpfheit und Gefühllosigkeit meinte man, würde der Urbewohner dem Thiere
gleich die vom Herrn ihm aufgebürdeten Arbeiten zu Stande bringen. Wie oft
hat mau die Bemerkung gehört, daß mau dem Letten nichts weiß machen dürfe,
als sei er etwas, sonst würde er widerspenstig und lässig in seiner Arbeit. Und
was es mit den vermeintlichen Segnungen der Bildung für eine Bewandtniß habe,
könnte man leicht erfahren, wenn man sich nur einmal bei den soge»ärnten deut¬
schen Leuten umsehen wollte. Letztere siud freilich auch uicht viel besser gestellt als
die Letten. Arm aus ihrer Heimath hierher verpflanzt und ohne Grundbesitz
fristen sie durch ihrer Hände Arbeit ein kümmerliches Dasein, aber in Folge ihres
größern mit herübergebrachten Frcihcitsgefühles berufen sie sich dem Herrn gegen¬
über auf Rechte, die man erst wegdemvnstrireu muß, ehe man durch Kommando un¬
mittelbare Dienstleistung erhält. Und das ist dem Herrn bei sonstigem öftern Man¬
gel an Arbeitskräften sehr unbequem.

Die Leiden des Volks und seine Klagen waren von jeher so offenkundig, so
viel verzweigt und originell, daß man sich von deutscher Seite veranlaßt fühlte,
dieselben in das damalige Plattdeutsch zu übersetzen:


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[0504] gesellschaftliche Einöden haben, gegenwärtig noch auf keiner hohen Stufe stehen, dann von Süden und Osten her rohe Nationen mit ungeordneter in ewigen Schwankungen begriffener Staatsverfassung, endlich nach Westen hin blos die vereinzelten Strahlen und EommuuicationSwege der Bildung, die vom germani¬ schen Kerne ausliefen! Was Wunder also, wenn die Eroberer der Ostseeprovin- zen, sich selber überlassen und außer dem Bereiche einer sie überwachenden Intel¬ ligenz, ihre energisch-dämonischen Kräfte gegen die Menschheit in ihrer Nähe los¬ ließen, um sie in ihren vollständigen Dienst zu zwingen. Gewiß, dies Alles dient zur Entschuldigung der jetzigen Verhältnisse. Bauer und Edelmann erndtet den ganzen Unsegen der frühern Zeit, die mit ihren nachtheiligen Folgen in die Gegenwart hineinragt. Wie viele Gutsbesitzer gibt es dort gegenwärtig, die sich durch liebenswürdige innere Bildung, durch feine zuvorkommende Geselligkeit und dnrch ernstliche Theilnahme an den Interessen des Volks vor der widerlichen Ge¬ burtsarroganz anderer Länder auszeichnen. Aber was die Jahrhunderte verschul¬ deten, können eben so wenig einzelne Gebietöhcrren als die Prediger schnell wieder gut macheu, die mau lächerlicherweise vom Standtpnukte eines auch in jenen Lan¬ den immer mehr um sich greifende» Pietismus anklagt, als ob sie durch ihren Indifferentismus den Uebergriffen der griechischen Religion Vorschub geleistet hätten. Die Folge jeues durch Eroberung herbeigeführten absoluten Abhängigkeitsvcr- hältnisses aber war, daß die beiden nationalen Bestandtheile der hiesigen Bevöl¬ kerung, der lettische und deutsche, bis auf die neueste Zeit in Sprache, Sitte und Gewohnheit durchaus vou einander getrennt blieben. Weit davon entfernt, erstem an den Segnungen deutscher Bildung Theil nehmen zu lasse», ging man vielmehr von dem Bestreben aus, dieselbe zu unterdrücken. Nur in einem gewissen Zustande von Dumpfheit und Gefühllosigkeit meinte man, würde der Urbewohner dem Thiere gleich die vom Herrn ihm aufgebürdeten Arbeiten zu Stande bringen. Wie oft hat mau die Bemerkung gehört, daß mau dem Letten nichts weiß machen dürfe, als sei er etwas, sonst würde er widerspenstig und lässig in seiner Arbeit. Und was es mit den vermeintlichen Segnungen der Bildung für eine Bewandtniß habe, könnte man leicht erfahren, wenn man sich nur einmal bei den soge»ärnten deut¬ schen Leuten umsehen wollte. Letztere siud freilich auch uicht viel besser gestellt als die Letten. Arm aus ihrer Heimath hierher verpflanzt und ohne Grundbesitz fristen sie durch ihrer Hände Arbeit ein kümmerliches Dasein, aber in Folge ihres größern mit herübergebrachten Frcihcitsgefühles berufen sie sich dem Herrn gegen¬ über auf Rechte, die man erst wegdemvnstrireu muß, ehe man durch Kommando un¬ mittelbare Dienstleistung erhält. Und das ist dem Herrn bei sonstigem öftern Man¬ gel an Arbeitskräften sehr unbequem. Die Leiden des Volks und seine Klagen waren von jeher so offenkundig, so viel verzweigt und originell, daß man sich von deutscher Seite veranlaßt fühlte, dieselben in das damalige Plattdeutsch zu übersetzen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/504>, abgerufen am 01.09.2024.