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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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lich aus Humanität geschehn sei. Eine politische Berechnung kommt dabei nicht
minder in's Spiel. Warum grade in den Ostseeprovinzen keine Leibeigene? O ja,
von Seiten russischer Magnaten wäre wohl jenen Befreiungsversuchen ein größerer
Widerstand geleistet worden. Dennoch hätte der Kaiser kraft seiner Autokratie
stärkere Anfragen wegen Emanzipation machen können, als dies geschehn ist. Aber
der Bestand alter Verhältnisse schien ihm uuter der Voraussetzung, daß von außen
kein Anstoß erfolgte, ganz in der Ordnung. In Rußland nämlich bilden Adlige
und Leibeigene eine durch Sprache, Sitte und Religion festgekittete Masse, in
welche sobald keine fremdartige Stoffe mit auflösenden Kräften hineingerathen kön¬
nen. Anders auf den Grenzen. Zuerst Polen. Hier glaubt man demnächst zu ei¬
nem ganz vollkommenen Ergebniß gekommen zu sein. Krakau wurde geopfert, um
durch diese Finte um so besser den letzten Todesstoß ans Polen einzuleiten. Bald
fallen die allerletzten Bollwerke des Staates, welcher jenen Namen führte. Eine
russische Mauer erhebt sich aus polnischen Trümmern mit Thoren, durch welche man
in ein russisches Gouvernement wandert. Die politische Wüste, welche gegenwärtig
auf's Emsigste von Tschinvwnits und Bajonetten angebaut wird, bietet von dieser
Seite her Gewähr gegen die Strömungen westeuropäischer Ideen. In den Ost¬
seeprovinzen können diese radikalen Umgestaltungen nicht in so handgreiflicher Weise
ausgeübt werden. Denn da hier keine Empörungen stattfanden, so fallen auch die
Anlässe plötzlicher Verwandlung weg. Die Politik geht hier mehr in Sammet¬
schuhen, stellt aber doch gelegentlich einen starkbesohlten Neiterstiefel in Aussicht,
der nicht allein zu schlüpfen, sondern auch zu treten versteht. Geht doch neben
dem Popen, wenn er in den Dörfern Lievlands die für die griechische Kirche ge¬
wonnenen Landsleute besucht, gewöhnlich ein Geusd'arme, der seine salbungsreiche
Rede mit bespornter Gegenwart in gehörigen Tritt bringen muß. Hier also gilt
der Grundsatz divicko et imnon"! von welchem sie auch der Kaiser Alexander bei
Aufhebung der Leibeigenschaft leiten ließ. Man wollte zwei durch Sprache und
Sitte geschiedene, durch das gegenseitige Verhältniß von Herrn- und Leibeigen¬
schaft aneinander gelöthete Massen durch die Emanzipation der Bauern trennen,
um hernach beide Parteien desto besser bezwetgen zu können. Die gegenwärtigen
unter Beihülfe der Religion gemachten Umwandlungen sind weiter nichts, als die
consequente Fortsetzung jener ersten Jsolirungsversuche. Ist aber erst das Volk,
der Bauer, in dem Zwange der griechischen Religion, dann Adieu Germanenthum!

Die lettische Nation, in die deutsche und russische mitten eingeklemmt, bleibt
bei diesem gegenseitigen Herüberziehen zuvörderst theilnahmlos, denn in Folge ei¬
nes Druckes, der Jahrhunderte dauerte, konnte sie sich nicht zu der Höhe eines
Principes hinaufschwingen, von welcher herab man in Beziehung auf dargebotene
Geschenke keine gehörige Kritik auszuüben vermag. Sie wird sich nur nach der
Seite hinneigen, von welcher man ihr die meisten materiellen Vortheile anbietet.


lich aus Humanität geschehn sei. Eine politische Berechnung kommt dabei nicht
minder in's Spiel. Warum grade in den Ostseeprovinzen keine Leibeigene? O ja,
von Seiten russischer Magnaten wäre wohl jenen Befreiungsversuchen ein größerer
Widerstand geleistet worden. Dennoch hätte der Kaiser kraft seiner Autokratie
stärkere Anfragen wegen Emanzipation machen können, als dies geschehn ist. Aber
der Bestand alter Verhältnisse schien ihm uuter der Voraussetzung, daß von außen
kein Anstoß erfolgte, ganz in der Ordnung. In Rußland nämlich bilden Adlige
und Leibeigene eine durch Sprache, Sitte und Religion festgekittete Masse, in
welche sobald keine fremdartige Stoffe mit auflösenden Kräften hineingerathen kön¬
nen. Anders auf den Grenzen. Zuerst Polen. Hier glaubt man demnächst zu ei¬
nem ganz vollkommenen Ergebniß gekommen zu sein. Krakau wurde geopfert, um
durch diese Finte um so besser den letzten Todesstoß ans Polen einzuleiten. Bald
fallen die allerletzten Bollwerke des Staates, welcher jenen Namen führte. Eine
russische Mauer erhebt sich aus polnischen Trümmern mit Thoren, durch welche man
in ein russisches Gouvernement wandert. Die politische Wüste, welche gegenwärtig
auf's Emsigste von Tschinvwnits und Bajonetten angebaut wird, bietet von dieser
Seite her Gewähr gegen die Strömungen westeuropäischer Ideen. In den Ost¬
seeprovinzen können diese radikalen Umgestaltungen nicht in so handgreiflicher Weise
ausgeübt werden. Denn da hier keine Empörungen stattfanden, so fallen auch die
Anlässe plötzlicher Verwandlung weg. Die Politik geht hier mehr in Sammet¬
schuhen, stellt aber doch gelegentlich einen starkbesohlten Neiterstiefel in Aussicht,
der nicht allein zu schlüpfen, sondern auch zu treten versteht. Geht doch neben
dem Popen, wenn er in den Dörfern Lievlands die für die griechische Kirche ge¬
wonnenen Landsleute besucht, gewöhnlich ein Geusd'arme, der seine salbungsreiche
Rede mit bespornter Gegenwart in gehörigen Tritt bringen muß. Hier also gilt
der Grundsatz divicko et imnon»! von welchem sie auch der Kaiser Alexander bei
Aufhebung der Leibeigenschaft leiten ließ. Man wollte zwei durch Sprache und
Sitte geschiedene, durch das gegenseitige Verhältniß von Herrn- und Leibeigen¬
schaft aneinander gelöthete Massen durch die Emanzipation der Bauern trennen,
um hernach beide Parteien desto besser bezwetgen zu können. Die gegenwärtigen
unter Beihülfe der Religion gemachten Umwandlungen sind weiter nichts, als die
consequente Fortsetzung jener ersten Jsolirungsversuche. Ist aber erst das Volk,
der Bauer, in dem Zwange der griechischen Religion, dann Adieu Germanenthum!

Die lettische Nation, in die deutsche und russische mitten eingeklemmt, bleibt
bei diesem gegenseitigen Herüberziehen zuvörderst theilnahmlos, denn in Folge ei¬
nes Druckes, der Jahrhunderte dauerte, konnte sie sich nicht zu der Höhe eines
Principes hinaufschwingen, von welcher herab man in Beziehung auf dargebotene
Geschenke keine gehörige Kritik auszuüben vermag. Sie wird sich nur nach der
Seite hinneigen, von welcher man ihr die meisten materiellen Vortheile anbietet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/500>, abgerufen am 01.09.2024.