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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Ja, das Herz der Armen -- es ist das Buch der Bücher. -- Geht in den
Faubourg Se. Marceau und Se. Antoine, wenn Ihr die Bibel lesen wollt, in den
Kollegien lernt Ihr nur, was nicht zu brauchen ist. Geht nicht hin mit Geld, geht
hin mit guten Worten und Gleichheit, so werdet Ihr lesen können. -- Das Herz
eines Armen ist das Buch der Bücher. Eine Parabel! Ein Schriftgelehrter in
alter Zeit war auf dem Wege in's Kollegium. Auf dem Wege dahin begegnet ihm
ein Armer. Er gibt ihm sein Geld. Der Schriftgelehrte geht weiter; ein zweiter
Armer begegnet ihn, er schenkt ihm seinen Mantel. Und weiter geht der Meister
wieder, da kömmt ein dritter Bettler heran, noch elender. Der Meister hat nichts
mehr zu geben als ein Buch, ein Buch, das er am Herzen trug -- die Bibel.
Der Arme fleht und der Meister schenkt sie ihm. Und plötzlich verklärt ein Schim¬
mer den Scheitel des Armen. Es war Christus, der dem Schriftgelehrten erschie¬
nen -- und seit diesem Tage las der Weise keine Bücher mehr.

Meine Herren! ich werde nächste Mittwoch meine Vorlesungen über die
französische Revolution fortsetzen....

So war die Vorlesung des Professor Michelet über die französische Revolu¬
tion, ich habe sie, ohne ein Wort daran zu ändern, nach meinen Noten im Ge¬
denkbuche getreulich wiedergegeben. Man möge sich nicht darüber wundern, daß
sie so kurz ist; durch die Art, in der sie vorgetragen wurde, und durch die Unter¬
brechungen von Seiten des Publikums mag sie wohl ihre 25 Minuten gedauert
haben. Das Quartier Ladin war durch sie sehr zufrieden gestellt. Ein donnernder
Applaus begleitete den Professor aus seinem Rückzüge, einige Chöre stimmten wie¬
der die Marseillaise an und dazwischen ließen sich wieder die Virtuosen in Vogel-
uud Raubthierstimmcn hören. Auf dem Hofe steckte alles in großer Erregung die
Pfeifen an und verabredete die Unterhaltungen für den Abend.

Da ich auf dem Schwellenstein zauderte, huschte ein kleiner Mann an mir
vorüber. Es war Michelet. Ich sah ihn nun in der Nähe und sah jetzt erst recht
wie so alt und gebrechlich und hager das kleine Männchen mit dem rothen Bänd¬
chen im Knopfloch seines schwarzen Frackes sei. Und ein heimliches Mitleid über¬
kam mich um den armen alten Gaukler, der von einem ganz gescheuten Manne
und nützlichen Historiker nun so sehr herabgekommen ist, daß er als schlechter
Dilettant den Poeten und Visionär vor der lachenden, polternden Jngend spielen
muß. Die besten und nützlichsten und wahrsten Gedanken können es nicht vertra¬
gen, daß man sie in phantastisch scheckige Lumpen verkleidet durch die Menge
spazieren führt, und so ist Michelet, indem er der Freiheit und dem Fortschritt
dienen will, allen beiden nur schädlich. Darum läßt auch die Regierung dem
Alten des College de France sein allwöchentliches Puppenspiel, und die letzte
Saite der dreisaitigen Leier wird wohl noch lange forttönen, wenn sie gleich nicht
Alfred Meißner. von Erz, aber mir von gewöhnlichem Schaafsdarm ist.




Ja, das Herz der Armen — es ist das Buch der Bücher. — Geht in den
Faubourg Se. Marceau und Se. Antoine, wenn Ihr die Bibel lesen wollt, in den
Kollegien lernt Ihr nur, was nicht zu brauchen ist. Geht nicht hin mit Geld, geht
hin mit guten Worten und Gleichheit, so werdet Ihr lesen können. — Das Herz
eines Armen ist das Buch der Bücher. Eine Parabel! Ein Schriftgelehrter in
alter Zeit war auf dem Wege in's Kollegium. Auf dem Wege dahin begegnet ihm
ein Armer. Er gibt ihm sein Geld. Der Schriftgelehrte geht weiter; ein zweiter
Armer begegnet ihn, er schenkt ihm seinen Mantel. Und weiter geht der Meister
wieder, da kömmt ein dritter Bettler heran, noch elender. Der Meister hat nichts
mehr zu geben als ein Buch, ein Buch, das er am Herzen trug — die Bibel.
Der Arme fleht und der Meister schenkt sie ihm. Und plötzlich verklärt ein Schim¬
mer den Scheitel des Armen. Es war Christus, der dem Schriftgelehrten erschie¬
nen — und seit diesem Tage las der Weise keine Bücher mehr.

Meine Herren! ich werde nächste Mittwoch meine Vorlesungen über die
französische Revolution fortsetzen....

So war die Vorlesung des Professor Michelet über die französische Revolu¬
tion, ich habe sie, ohne ein Wort daran zu ändern, nach meinen Noten im Ge¬
denkbuche getreulich wiedergegeben. Man möge sich nicht darüber wundern, daß
sie so kurz ist; durch die Art, in der sie vorgetragen wurde, und durch die Unter¬
brechungen von Seiten des Publikums mag sie wohl ihre 25 Minuten gedauert
haben. Das Quartier Ladin war durch sie sehr zufrieden gestellt. Ein donnernder
Applaus begleitete den Professor aus seinem Rückzüge, einige Chöre stimmten wie¬
der die Marseillaise an und dazwischen ließen sich wieder die Virtuosen in Vogel-
uud Raubthierstimmcn hören. Auf dem Hofe steckte alles in großer Erregung die
Pfeifen an und verabredete die Unterhaltungen für den Abend.

Da ich auf dem Schwellenstein zauderte, huschte ein kleiner Mann an mir
vorüber. Es war Michelet. Ich sah ihn nun in der Nähe und sah jetzt erst recht
wie so alt und gebrechlich und hager das kleine Männchen mit dem rothen Bänd¬
chen im Knopfloch seines schwarzen Frackes sei. Und ein heimliches Mitleid über¬
kam mich um den armen alten Gaukler, der von einem ganz gescheuten Manne
und nützlichen Historiker nun so sehr herabgekommen ist, daß er als schlechter
Dilettant den Poeten und Visionär vor der lachenden, polternden Jngend spielen
muß. Die besten und nützlichsten und wahrsten Gedanken können es nicht vertra¬
gen, daß man sie in phantastisch scheckige Lumpen verkleidet durch die Menge
spazieren führt, und so ist Michelet, indem er der Freiheit und dem Fortschritt
dienen will, allen beiden nur schädlich. Darum läßt auch die Regierung dem
Alten des College de France sein allwöchentliches Puppenspiel, und die letzte
Saite der dreisaitigen Leier wird wohl noch lange forttönen, wenn sie gleich nicht
Alfred Meißner. von Erz, aber mir von gewöhnlichem Schaafsdarm ist.




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[0446] Ja, das Herz der Armen — es ist das Buch der Bücher. — Geht in den Faubourg Se. Marceau und Se. Antoine, wenn Ihr die Bibel lesen wollt, in den Kollegien lernt Ihr nur, was nicht zu brauchen ist. Geht nicht hin mit Geld, geht hin mit guten Worten und Gleichheit, so werdet Ihr lesen können. — Das Herz eines Armen ist das Buch der Bücher. Eine Parabel! Ein Schriftgelehrter in alter Zeit war auf dem Wege in's Kollegium. Auf dem Wege dahin begegnet ihm ein Armer. Er gibt ihm sein Geld. Der Schriftgelehrte geht weiter; ein zweiter Armer begegnet ihn, er schenkt ihm seinen Mantel. Und weiter geht der Meister wieder, da kömmt ein dritter Bettler heran, noch elender. Der Meister hat nichts mehr zu geben als ein Buch, ein Buch, das er am Herzen trug — die Bibel. Der Arme fleht und der Meister schenkt sie ihm. Und plötzlich verklärt ein Schim¬ mer den Scheitel des Armen. Es war Christus, der dem Schriftgelehrten erschie¬ nen — und seit diesem Tage las der Weise keine Bücher mehr. Meine Herren! ich werde nächste Mittwoch meine Vorlesungen über die französische Revolution fortsetzen.... So war die Vorlesung des Professor Michelet über die französische Revolu¬ tion, ich habe sie, ohne ein Wort daran zu ändern, nach meinen Noten im Ge¬ denkbuche getreulich wiedergegeben. Man möge sich nicht darüber wundern, daß sie so kurz ist; durch die Art, in der sie vorgetragen wurde, und durch die Unter¬ brechungen von Seiten des Publikums mag sie wohl ihre 25 Minuten gedauert haben. Das Quartier Ladin war durch sie sehr zufrieden gestellt. Ein donnernder Applaus begleitete den Professor aus seinem Rückzüge, einige Chöre stimmten wie¬ der die Marseillaise an und dazwischen ließen sich wieder die Virtuosen in Vogel- uud Raubthierstimmcn hören. Auf dem Hofe steckte alles in großer Erregung die Pfeifen an und verabredete die Unterhaltungen für den Abend. Da ich auf dem Schwellenstein zauderte, huschte ein kleiner Mann an mir vorüber. Es war Michelet. Ich sah ihn nun in der Nähe und sah jetzt erst recht wie so alt und gebrechlich und hager das kleine Männchen mit dem rothen Bänd¬ chen im Knopfloch seines schwarzen Frackes sei. Und ein heimliches Mitleid über¬ kam mich um den armen alten Gaukler, der von einem ganz gescheuten Manne und nützlichen Historiker nun so sehr herabgekommen ist, daß er als schlechter Dilettant den Poeten und Visionär vor der lachenden, polternden Jngend spielen muß. Die besten und nützlichsten und wahrsten Gedanken können es nicht vertra¬ gen, daß man sie in phantastisch scheckige Lumpen verkleidet durch die Menge spazieren führt, und so ist Michelet, indem er der Freiheit und dem Fortschritt dienen will, allen beiden nur schädlich. Darum läßt auch die Regierung dem Alten des College de France sein allwöchentliches Puppenspiel, und die letzte Saite der dreisaitigen Leier wird wohl noch lange forttönen, wenn sie gleich nicht Alfred Meißner. von Erz, aber mir von gewöhnlichem Schaafsdarm ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/446>, abgerufen am 28.07.2024.