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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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nützlich gewesen wäre, so tritt diese -- wie soll ich es nennen? -- vornehme Art
der Geschichtschreibung in seinen spätern Werten noch mehr hervor.

Die "Fürsten und Völker" sind nämlich nicht mehr auf minder bekannte, aber
doch gedruckte Zeitgenossen basirt, sondern auf eigentliche Urkunden. Es war
namentlich in Venedig ein Schatz der wichtigsten Documente, die bis dahin aus
dem Staub der Archive uoch gar nicht waren an's Licht gezogen. Die Venetianer
waren in den ersten Jahrhunderten der neuen Zeit die Meister in der Diplomatie.
Ihre Gesandten, namentlich an den Höfen des südlichen Europa, waren verpflich¬
tet, in ununterbrochener Folge Nachrichten über die Ereignisse ihrer Residenz und
Charakteristiken der einflußreichsten Personen einzusenden. Diese Berichte dienten
nicht nur zur Kenntnißnahme des Staats, sondern vornämlich auch zur Ausbildung
junger Diplomaten, die später eine ähnliche Stellung einzunehmen berufen waren.
Diese Archive wurden Ranke auf die Verwendung seines Hofes geöffnet, und er
gewann dadurch nicht allein ein reiches und sicheres Material, sondern vornäm-
Uch diese frische, eigenthümliche Färbung, die sonst nur eine unmittelbare, leben¬
dige Betheiligung bei der Sache gibt. Freilich muß hinzugesetzt werden, daß ebenso
aus diesen Vorstudien auch die diplomatische Auffassung der Geschichte hervorging,
die scharf, lebendig, geistreich sein kann, aber keineswegs der höchste Standpunkt
M nennen ist, den der Historiker einnehmen soll.

Erklären wir uns deutlicher. Ein Diplomat ist keineswegs eine Abstraction,
ein Geschöpf ohne Herz, ohne Wärme, ohne Sympathie. Ein Diplomat kann
ein sehr religiöser, oder auch ein freigeistischer Mann sein, er kann Empfänglichkeit
haben für alles Große und Schöne, Hingebung an Einzelne und was dem con-
creten Menschen sonst eigen ist. Aber der Diplomat steht entweder außerhalb der
Begebenheiten, oder er nimmt an ihnen Theil zum Nutzen seines eigenen Staats,
also in einem der Sache eigentlich fremden Interesse. Diese Art der Theilnahme
bedingt mich seine Beobachtung: sie geht anf's Einzelne, und wenn ich mich so
ausdrücken darf, aus's Aeußerliche. Ein feingebildeter Mann wird sich nicht auf
rohe Aeußerlichkeiten beschränken, er wird einen besondern Reiz in dem Durch¬
blicken der innern Motive finden, er wird, besonders wenn der Vortheil seines
Staats nicht unmittelbar in's Spiel kommt, mit unparteiischen Wohlwollen jede
Bewegung verfolgen, in der sich etwas Geistiges manifestirt; -- aber dieses Wohl¬
wollen ist nicht die lebendige, beseelende Theilnahme, nicht der unmittelbare En¬
thusiasmus, der allein wahrhaft geniales Thun, allein wahrhaft geniales Begreifen
Möglich macht.

Wenn man nun fragt, wie soll ein Geschichtschreiber, der sich mit längst ver¬
gangenen Thatsachen beschäftigt, von dieser unmittelbaren Theilnahme durchdrungen
sein, da er doch jedenfalls außerhalb der Interessen steht, die jene Zeit bewegen:
so antworte ich einfach, es gibt für die höhere Auffassung der Geschichte keine Ver¬
gangenheit. Diese höhere Auffassung kann sich nur derjenige aneignen, welchem


nützlich gewesen wäre, so tritt diese — wie soll ich es nennen? — vornehme Art
der Geschichtschreibung in seinen spätern Werten noch mehr hervor.

Die „Fürsten und Völker" sind nämlich nicht mehr auf minder bekannte, aber
doch gedruckte Zeitgenossen basirt, sondern auf eigentliche Urkunden. Es war
namentlich in Venedig ein Schatz der wichtigsten Documente, die bis dahin aus
dem Staub der Archive uoch gar nicht waren an's Licht gezogen. Die Venetianer
waren in den ersten Jahrhunderten der neuen Zeit die Meister in der Diplomatie.
Ihre Gesandten, namentlich an den Höfen des südlichen Europa, waren verpflich¬
tet, in ununterbrochener Folge Nachrichten über die Ereignisse ihrer Residenz und
Charakteristiken der einflußreichsten Personen einzusenden. Diese Berichte dienten
nicht nur zur Kenntnißnahme des Staats, sondern vornämlich auch zur Ausbildung
junger Diplomaten, die später eine ähnliche Stellung einzunehmen berufen waren.
Diese Archive wurden Ranke auf die Verwendung seines Hofes geöffnet, und er
gewann dadurch nicht allein ein reiches und sicheres Material, sondern vornäm-
Uch diese frische, eigenthümliche Färbung, die sonst nur eine unmittelbare, leben¬
dige Betheiligung bei der Sache gibt. Freilich muß hinzugesetzt werden, daß ebenso
aus diesen Vorstudien auch die diplomatische Auffassung der Geschichte hervorging,
die scharf, lebendig, geistreich sein kann, aber keineswegs der höchste Standpunkt
M nennen ist, den der Historiker einnehmen soll.

Erklären wir uns deutlicher. Ein Diplomat ist keineswegs eine Abstraction,
ein Geschöpf ohne Herz, ohne Wärme, ohne Sympathie. Ein Diplomat kann
ein sehr religiöser, oder auch ein freigeistischer Mann sein, er kann Empfänglichkeit
haben für alles Große und Schöne, Hingebung an Einzelne und was dem con-
creten Menschen sonst eigen ist. Aber der Diplomat steht entweder außerhalb der
Begebenheiten, oder er nimmt an ihnen Theil zum Nutzen seines eigenen Staats,
also in einem der Sache eigentlich fremden Interesse. Diese Art der Theilnahme
bedingt mich seine Beobachtung: sie geht anf's Einzelne, und wenn ich mich so
ausdrücken darf, aus's Aeußerliche. Ein feingebildeter Mann wird sich nicht auf
rohe Aeußerlichkeiten beschränken, er wird einen besondern Reiz in dem Durch¬
blicken der innern Motive finden, er wird, besonders wenn der Vortheil seines
Staats nicht unmittelbar in's Spiel kommt, mit unparteiischen Wohlwollen jede
Bewegung verfolgen, in der sich etwas Geistiges manifestirt; — aber dieses Wohl¬
wollen ist nicht die lebendige, beseelende Theilnahme, nicht der unmittelbare En¬
thusiasmus, der allein wahrhaft geniales Thun, allein wahrhaft geniales Begreifen
Möglich macht.

Wenn man nun fragt, wie soll ein Geschichtschreiber, der sich mit längst ver¬
gangenen Thatsachen beschäftigt, von dieser unmittelbaren Theilnahme durchdrungen
sein, da er doch jedenfalls außerhalb der Interessen steht, die jene Zeit bewegen:
so antworte ich einfach, es gibt für die höhere Auffassung der Geschichte keine Ver¬
gangenheit. Diese höhere Auffassung kann sich nur derjenige aneignen, welchem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/413>, abgerufen am 01.09.2024.