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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Wiedererneuerung man der Entdeckung der neuen Welt billig an die Seite setzen
kann -- faßten sie ihre eigene Aufgabe im Sinn der Alten. Bei den Griechen
war die prosaische Darstellung von der poetischen noch nicht so weit geschieden,
daß nicht auch für jene die künstlerische Form als etwas Wesentliches gefordert
wäre. Die Geschichte sollte nicht nur durch den Ernst ihrer Forschungen befriedi¬
gen, sie sollte auch durch die Annuli) ihrer Darstellung dem griechischen Schön¬
heitssinn entsprechen. Der dichterische Geist des Erzählers mußte ersetzen, was
der Geschichte an Abrundung und Anschaulichkeit fehlte.

In ähnlichem Sinne verfuhren die Italiener des 16. Jahrhunderts. Ueber
die engen Schranken des localen Interesse strebt ihr gebildeter Geist hinaus;
ihr Werk soll nicht ein treuer, schlichter Diener des Gedächtnisses, er soll ein
würdiges, classisches Denkmal einer ganzen Bildungsepoche sein. Könige, Fürsten,
Staatsmänner, Priester, von allen Farben und Parteien ergötzten sie sich an diesen
heitern, öfters classischen Gemälden; die Geschichte des is. Jahrhunderts studirte
man nur in ihnen.

Mit unbarmherziger Wahrheitsliebe entblättert Ranke den Kranz, der ihre
Stirne schmückt. Er fragt zunächst: sind sie als Quellen der neuen Geschichte
zu betrachten? Und da findet es sich, daß unter ihren Erzählungen und Beschrei¬
bungen, so sehr sie bei dem, was sie darstellen, betheiligt waren, dennoch das
Wenigste ihrer eigenen Beobachtung angehört; es findet sich irgend ein dunkler,
vergessener Chronist, in welchem sich die von ihnen berichteten Thatsachen wieder¬
finden, aber einfacher, planer dargestellt; in d"".n, worin sie von ihrer Quelle ab¬
weichen, läßt sich leicht die Absicht, die Reflexion nachweisen; entweder suchen sie
einen oratorischen oder novellistischen Abschluß, oder sie wollen ihre eigne Person,
ihre eignen Interessen heben. Als unterhaltende Bücher, als wichtige Denkmäler
von der Gesinnung und Anschauungsweise hochgestellter und gebildeter Männer in
einer bedeutenden Zeit werden sie anerkannt; als Quellen der Geschichte unbe¬
dingt verworfen. Das gilt von allen Schriftstellern -- Italienern, Deutschen,
Spaniern, Franzosen -- die uns bis dahin ausschließlich die Geschichte jeuer Zeit
überliefert hatten. So war uns der Boden unter den Füßen entzogen; die Kette
der Tradition war gebrochen, und es galt nun, aus eigenen Kräften, mit spar¬
samen, aber zuverlässigem Material, den Grund zu den eingerissenen Gebände
von Neuem zu legen.

Denn jene Auffassung von der Aufgabe eines Historikers, wie sie die Alten
und nach ihrem Vorbild die neuclassischen Italiener aufstellten, wird mit Entschie¬
denheit verworfen. Die Geschichte soll keine Dichtung sein, nicht der kleinste Zug
soll der Tradition oder gar der eignen Erfindung angehören. Deswegen hört sie
doch nicht auf, ein Kunstwerk zu sein; sie säubert, sie ordnet, sie gruppirt; und
so bringt sie ein classisches Gemälde hervor, indem sie doch nichts darstellt, als
was ihr aus der sichern Hand beglaubigter Documente überliefert ist.


Wiedererneuerung man der Entdeckung der neuen Welt billig an die Seite setzen
kann — faßten sie ihre eigene Aufgabe im Sinn der Alten. Bei den Griechen
war die prosaische Darstellung von der poetischen noch nicht so weit geschieden,
daß nicht auch für jene die künstlerische Form als etwas Wesentliches gefordert
wäre. Die Geschichte sollte nicht nur durch den Ernst ihrer Forschungen befriedi¬
gen, sie sollte auch durch die Annuli) ihrer Darstellung dem griechischen Schön¬
heitssinn entsprechen. Der dichterische Geist des Erzählers mußte ersetzen, was
der Geschichte an Abrundung und Anschaulichkeit fehlte.

In ähnlichem Sinne verfuhren die Italiener des 16. Jahrhunderts. Ueber
die engen Schranken des localen Interesse strebt ihr gebildeter Geist hinaus;
ihr Werk soll nicht ein treuer, schlichter Diener des Gedächtnisses, er soll ein
würdiges, classisches Denkmal einer ganzen Bildungsepoche sein. Könige, Fürsten,
Staatsmänner, Priester, von allen Farben und Parteien ergötzten sie sich an diesen
heitern, öfters classischen Gemälden; die Geschichte des is. Jahrhunderts studirte
man nur in ihnen.

Mit unbarmherziger Wahrheitsliebe entblättert Ranke den Kranz, der ihre
Stirne schmückt. Er fragt zunächst: sind sie als Quellen der neuen Geschichte
zu betrachten? Und da findet es sich, daß unter ihren Erzählungen und Beschrei¬
bungen, so sehr sie bei dem, was sie darstellen, betheiligt waren, dennoch das
Wenigste ihrer eigenen Beobachtung angehört; es findet sich irgend ein dunkler,
vergessener Chronist, in welchem sich die von ihnen berichteten Thatsachen wieder¬
finden, aber einfacher, planer dargestellt; in d«".n, worin sie von ihrer Quelle ab¬
weichen, läßt sich leicht die Absicht, die Reflexion nachweisen; entweder suchen sie
einen oratorischen oder novellistischen Abschluß, oder sie wollen ihre eigne Person,
ihre eignen Interessen heben. Als unterhaltende Bücher, als wichtige Denkmäler
von der Gesinnung und Anschauungsweise hochgestellter und gebildeter Männer in
einer bedeutenden Zeit werden sie anerkannt; als Quellen der Geschichte unbe¬
dingt verworfen. Das gilt von allen Schriftstellern — Italienern, Deutschen,
Spaniern, Franzosen — die uns bis dahin ausschließlich die Geschichte jeuer Zeit
überliefert hatten. So war uns der Boden unter den Füßen entzogen; die Kette
der Tradition war gebrochen, und es galt nun, aus eigenen Kräften, mit spar¬
samen, aber zuverlässigem Material, den Grund zu den eingerissenen Gebände
von Neuem zu legen.

Denn jene Auffassung von der Aufgabe eines Historikers, wie sie die Alten
und nach ihrem Vorbild die neuclassischen Italiener aufstellten, wird mit Entschie¬
denheit verworfen. Die Geschichte soll keine Dichtung sein, nicht der kleinste Zug
soll der Tradition oder gar der eignen Erfindung angehören. Deswegen hört sie
doch nicht auf, ein Kunstwerk zu sein; sie säubert, sie ordnet, sie gruppirt; und
so bringt sie ein classisches Gemälde hervor, indem sie doch nichts darstellt, als
was ihr aus der sichern Hand beglaubigter Documente überliefert ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/410>, abgerufen am 01.09.2024.