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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Moderne Historiker



Leopold Ranke.
I.

Ich wüßte keinen Geschichtschreiber, an dem sich die Eigenthümlichkeiten un-
serer Nation, namentlich den Franzosen, Engländern und Italienern gegenüber,
so scharf nachweisen ließen, als Ranke. Er ist überdies derjenige Schriftsteller,
der sich der weitesten Verbreitung erfreut; er ist ziemlich in alle Sprachen über¬
setzt, zum Theil auf eine glänzende Weise; er gilt dem Auslande als der Vor¬
züglichste unter den deutschen Historikern.

Die naive Unschuld, mit der sonst Geschichte geschrieben wurde, ist heutzutage
vorüber. Sonst glaubte mau ein Großes gethan zu haben, wenn man das vor¬
gefundene Material in möglichst reicher Fülle znsammenhäufte und möglichst ge¬
schickt anordnete. Gegenwärtig hat man eingesehen, daß die erste Aufgabe des
Historikers eine negative ist; nämlich all' die Meinungen, Vorstellungen, Geschichten
von sich zu werfen, mit denen eine eben so anmuthige als ungründliche Tradition
den eigentlich historischen Stoff umhüllt hat; eine Kritik, die in der neuern Ge¬
schichte eben so wesentlich und nothwendig ist, als wenn wir die Mythen des
Orients sichten wollen. Sodann wird die Darstellung einer Zeit nur dann ge¬
billigt werden, wenn sie den Eindruck eines gebildeten Geistes macht. Ein Histo¬
riker ohne ästhetisches und philosophisches Urtheil ist nicht mehr möglich.

Was ich hier hervorgehoben habe, sind die wesentlichsten Merkmale in der
Darstellung unsers Schriftstellers. schonungslose Kritik und ein gebildetes Ur¬
theil. Man wird bemerken, daß ich ein drittes Moment nicht angeführt habe:
Politische Einsicht, oder besser, politische Productivität. Denn ein gebildeter Mann
wird bei näherer Einsicht in die bestimmten Verhältnisse einer Zeit wohl ein Ur¬
theil haben über die Ereignisse und ihre Motive, er wird sie nachempfinden, sie
begreifen; ob aber diese kritische Reproduction mit der Fähigkeit verbunden sei,
unmittelbar das Richtige vorausempfiudeud zu ergreifen, ist eine andere Frage.
Ich erinnere hier nur vorläufig daran, daß man sich durch den schlechten Erfolg,
den Ranke's politische Tendenzen gefunden haben, nicht im Voraus einnehmen


Gnnzr"),en. ni. 1847.
Moderne Historiker



Leopold Ranke.
I.

Ich wüßte keinen Geschichtschreiber, an dem sich die Eigenthümlichkeiten un-
serer Nation, namentlich den Franzosen, Engländern und Italienern gegenüber,
so scharf nachweisen ließen, als Ranke. Er ist überdies derjenige Schriftsteller,
der sich der weitesten Verbreitung erfreut; er ist ziemlich in alle Sprachen über¬
setzt, zum Theil auf eine glänzende Weise; er gilt dem Auslande als der Vor¬
züglichste unter den deutschen Historikern.

Die naive Unschuld, mit der sonst Geschichte geschrieben wurde, ist heutzutage
vorüber. Sonst glaubte mau ein Großes gethan zu haben, wenn man das vor¬
gefundene Material in möglichst reicher Fülle znsammenhäufte und möglichst ge¬
schickt anordnete. Gegenwärtig hat man eingesehen, daß die erste Aufgabe des
Historikers eine negative ist; nämlich all' die Meinungen, Vorstellungen, Geschichten
von sich zu werfen, mit denen eine eben so anmuthige als ungründliche Tradition
den eigentlich historischen Stoff umhüllt hat; eine Kritik, die in der neuern Ge¬
schichte eben so wesentlich und nothwendig ist, als wenn wir die Mythen des
Orients sichten wollen. Sodann wird die Darstellung einer Zeit nur dann ge¬
billigt werden, wenn sie den Eindruck eines gebildeten Geistes macht. Ein Histo¬
riker ohne ästhetisches und philosophisches Urtheil ist nicht mehr möglich.

Was ich hier hervorgehoben habe, sind die wesentlichsten Merkmale in der
Darstellung unsers Schriftstellers. schonungslose Kritik und ein gebildetes Ur¬
theil. Man wird bemerken, daß ich ein drittes Moment nicht angeführt habe:
Politische Einsicht, oder besser, politische Productivität. Denn ein gebildeter Mann
wird bei näherer Einsicht in die bestimmten Verhältnisse einer Zeit wohl ein Ur¬
theil haben über die Ereignisse und ihre Motive, er wird sie nachempfinden, sie
begreifen; ob aber diese kritische Reproduction mit der Fähigkeit verbunden sei,
unmittelbar das Richtige vorausempfiudeud zu ergreifen, ist eine andere Frage.
Ich erinnere hier nur vorläufig daran, daß man sich durch den schlechten Erfolg,
den Ranke's politische Tendenzen gefunden haben, nicht im Voraus einnehmen


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[0407] Moderne Historiker Leopold Ranke. I. Ich wüßte keinen Geschichtschreiber, an dem sich die Eigenthümlichkeiten un- serer Nation, namentlich den Franzosen, Engländern und Italienern gegenüber, so scharf nachweisen ließen, als Ranke. Er ist überdies derjenige Schriftsteller, der sich der weitesten Verbreitung erfreut; er ist ziemlich in alle Sprachen über¬ setzt, zum Theil auf eine glänzende Weise; er gilt dem Auslande als der Vor¬ züglichste unter den deutschen Historikern. Die naive Unschuld, mit der sonst Geschichte geschrieben wurde, ist heutzutage vorüber. Sonst glaubte mau ein Großes gethan zu haben, wenn man das vor¬ gefundene Material in möglichst reicher Fülle znsammenhäufte und möglichst ge¬ schickt anordnete. Gegenwärtig hat man eingesehen, daß die erste Aufgabe des Historikers eine negative ist; nämlich all' die Meinungen, Vorstellungen, Geschichten von sich zu werfen, mit denen eine eben so anmuthige als ungründliche Tradition den eigentlich historischen Stoff umhüllt hat; eine Kritik, die in der neuern Ge¬ schichte eben so wesentlich und nothwendig ist, als wenn wir die Mythen des Orients sichten wollen. Sodann wird die Darstellung einer Zeit nur dann ge¬ billigt werden, wenn sie den Eindruck eines gebildeten Geistes macht. Ein Histo¬ riker ohne ästhetisches und philosophisches Urtheil ist nicht mehr möglich. Was ich hier hervorgehoben habe, sind die wesentlichsten Merkmale in der Darstellung unsers Schriftstellers. schonungslose Kritik und ein gebildetes Ur¬ theil. Man wird bemerken, daß ich ein drittes Moment nicht angeführt habe: Politische Einsicht, oder besser, politische Productivität. Denn ein gebildeter Mann wird bei näherer Einsicht in die bestimmten Verhältnisse einer Zeit wohl ein Ur¬ theil haben über die Ereignisse und ihre Motive, er wird sie nachempfinden, sie begreifen; ob aber diese kritische Reproduction mit der Fähigkeit verbunden sei, unmittelbar das Richtige vorausempfiudeud zu ergreifen, ist eine andere Frage. Ich erinnere hier nur vorläufig daran, daß man sich durch den schlechten Erfolg, den Ranke's politische Tendenzen gefunden haben, nicht im Voraus einnehmen Gnnzr»),en. ni. 1847.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/407>, abgerufen am 01.09.2024.