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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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tum erhalten, er seines Sitzes im Parlament verlustig ist. Diesen Beweis
zu erschweren oder unmöglich zu machen, darin besteht jetzt die ganze ge¬
rühmte Nicht-Corruptibilität. Es ist eine sophistische Moral der Zeit, Un¬
recht als Recht erscheinen zu lasse", und die Gewohnheit scheint aller Augen
gegen das Factum zu verschließen und nur den Schein sichtbar zu lassen.
Jeder erzählt dem Andern, wieviel tausend Pf. Sterling der eine oder der
andere Wahlcaudidat mitgenommen, und in wie ferne er damit zugereicht
oder überboten worden. Man liesse, daß in einer Kneipe jeder Gast ein
Goldstück auf dem Grunde seiner Tasse gefunden; man hört, daß an ver¬
schiedenen Orten Hammelkeulen für den Preis von 10 Pf. Se. ausgeboten
worden, so daß endlich der ärmere Kandidat verzweifelnd ausgerufen: diese
verdammten Hammelkeulen würden ihn um seineu Sitz im Parlamente brin¬
gen, weil er kein Geld mehr habe dieselben zu erstehen. An andern Orten
kaufte man die Katzen, und Herrn Meyer Rothschild wurde solch' ein Thier
für 20 Ps. Se. angeboten. Mitunter sogar, wenn so ein Votumbcsitzer gar
nichts zu verkaufen hatte, suchte man in seinem Stalle nach, ob kein Esel
oder kein Schwein da sei, oder auch ein Hund, nur irgend ein käuflicher
Gegenstand; denu die armen Leute besitzen der transportablen Sachen nicht
übcrviele, wie man weiß, und man muß schou darnach suchen. Eines Tages
begegnete so ein Wahlcaudidat einem Eselkarren. "Wie viel wollt Ihr für
das Thier?" fragte er den Manu. -- "Ich verlauf' es uicht." -- "Nicht?
auch uicht für 10 Pf. Se." -- Er schüttelte deu Kopf mit einer Art weh¬
müthigem Bedauern. -- "Nun, wenn Ihr denn durchaus nicht wollt, so
könnt' ich doch wenigstens den Karren haben. Hier siud 10 Pf. Se. für
diesen. -- Der Mann nahm das Geld und sagte dann in seiner langsamen
Weise: "Das Factum ist, Herr, daß ich gestern den Esel schon an einen
andern GÄitlemen verlauft habe, deu Karren aber, den können Sie gerne
bekommen." -- Da sieht man nun, welch' ein Interesse diese Leute daran
nehmen, wer sie vertritt. Und dieser sind eine große Zahl. Zu ihnen ge¬
hören alle jene in den Städten Freigeborenen, die als solche ein Votum
haben und alle, die eine Rente von 10 Pf. Se. für ihr Haus zahlen. Diese
Leute sind zu arm, um sich um die Politik zu kümmern. Ihr Sorgen und
Hoffen geht aus den kommenden Morgen, und was ihnen thätlich hilft, die
Bürde ihres- Lebens für Wochen leichter zu tragen, ist ihnen weit lieber als
eine im Parlament discutirte Frage, von der sie nichts verstehen. Diese
Klasse zu vermögen ans andern und höhern Grundsätzen ihr Votum zu er¬
theilen, ist daher eine Sache der Unmöglichkeit. Man nehme ihnen die
Nahrungssorgen und gebe ihnen Wohlstand, dann werden sie Zeit finden


tum erhalten, er seines Sitzes im Parlament verlustig ist. Diesen Beweis
zu erschweren oder unmöglich zu machen, darin besteht jetzt die ganze ge¬
rühmte Nicht-Corruptibilität. Es ist eine sophistische Moral der Zeit, Un¬
recht als Recht erscheinen zu lasse», und die Gewohnheit scheint aller Augen
gegen das Factum zu verschließen und nur den Schein sichtbar zu lassen.
Jeder erzählt dem Andern, wieviel tausend Pf. Sterling der eine oder der
andere Wahlcaudidat mitgenommen, und in wie ferne er damit zugereicht
oder überboten worden. Man liesse, daß in einer Kneipe jeder Gast ein
Goldstück auf dem Grunde seiner Tasse gefunden; man hört, daß an ver¬
schiedenen Orten Hammelkeulen für den Preis von 10 Pf. Se. ausgeboten
worden, so daß endlich der ärmere Kandidat verzweifelnd ausgerufen: diese
verdammten Hammelkeulen würden ihn um seineu Sitz im Parlamente brin¬
gen, weil er kein Geld mehr habe dieselben zu erstehen. An andern Orten
kaufte man die Katzen, und Herrn Meyer Rothschild wurde solch' ein Thier
für 20 Ps. Se. angeboten. Mitunter sogar, wenn so ein Votumbcsitzer gar
nichts zu verkaufen hatte, suchte man in seinem Stalle nach, ob kein Esel
oder kein Schwein da sei, oder auch ein Hund, nur irgend ein käuflicher
Gegenstand; denu die armen Leute besitzen der transportablen Sachen nicht
übcrviele, wie man weiß, und man muß schou darnach suchen. Eines Tages
begegnete so ein Wahlcaudidat einem Eselkarren. „Wie viel wollt Ihr für
das Thier?" fragte er den Manu. — „Ich verlauf' es uicht." — „Nicht?
auch uicht für 10 Pf. Se." — Er schüttelte deu Kopf mit einer Art weh¬
müthigem Bedauern. — „Nun, wenn Ihr denn durchaus nicht wollt, so
könnt' ich doch wenigstens den Karren haben. Hier siud 10 Pf. Se. für
diesen. — Der Mann nahm das Geld und sagte dann in seiner langsamen
Weise: „Das Factum ist, Herr, daß ich gestern den Esel schon an einen
andern GÄitlemen verlauft habe, deu Karren aber, den können Sie gerne
bekommen." — Da sieht man nun, welch' ein Interesse diese Leute daran
nehmen, wer sie vertritt. Und dieser sind eine große Zahl. Zu ihnen ge¬
hören alle jene in den Städten Freigeborenen, die als solche ein Votum
haben und alle, die eine Rente von 10 Pf. Se. für ihr Haus zahlen. Diese
Leute sind zu arm, um sich um die Politik zu kümmern. Ihr Sorgen und
Hoffen geht aus den kommenden Morgen, und was ihnen thätlich hilft, die
Bürde ihres- Lebens für Wochen leichter zu tragen, ist ihnen weit lieber als
eine im Parlament discutirte Frage, von der sie nichts verstehen. Diese
Klasse zu vermögen ans andern und höhern Grundsätzen ihr Votum zu er¬
theilen, ist daher eine Sache der Unmöglichkeit. Man nehme ihnen die
Nahrungssorgen und gebe ihnen Wohlstand, dann werden sie Zeit finden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/369>, abgerufen am 28.07.2024.