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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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erinnere sich, daß in neuester Zeit das Prinzip des Egoismus von einer
jungen Philosophenschule als das allein wahre, allen humanen Tenden¬
zen entgegengestellt wurde; mau triumphirte, eine neue Welt entdeckt zu
haben, weil man in abstracten Formeln und mit philosophischer Parrhesie
aussprach, was alle Welt schon wußte und ausübte. Paradoxie ist nichts an¬
deres, als eine Wahrheit von Einer Seite angesehen. "Das Dichten und
Trachten der Menschen ist auf Wahn gegründet," "die Sprache ist erfunden,
um die Gedanken zu verbergen," das alles ist nicht unwahr, sondern nur
einseitig, und eben darum pikant. Von den übrigen kleinern Piecen dieser
Sammlung sind die frivolen am Besten gelungen, z. B. der rothe Zwerg,
der Page Karl des Großen u. s. w., einige Male hat der Dichter sich auch
im Grauslichen, oder wenn man will, im Tragischen versucht, z. B. "die
Todtenhand," aber mit geringem Erfolg. Am Meisten mißrathen ist eine
allegorische Dichtung.

Sternberg ist ein Mährchendichter, wenn man unter Mährchen diese
Auffassung des Lebens versteht, die damit spielt und tändelt. Einen Ge¬
gensatz dazu bildet ein zweites Buch: Die Jünger Börne'S. Ein
Roman von Minna Wauer. (Berlin, Hirschfeld). Die Verfasserin, Toch¬
ter eines k. preuß. Hofschauspielers, der die Wachtmeister, Zigeunerhaupt¬
leute und sonstige Eisenfresser gibt, dankt in der Vorrede ihrem geliebten
Vater für die Freiheit, die er ihrem Leben und ihrer Bildung gegeben, stellt
ihn neben Börne, den "Erlöser des Geists," und fordert ihn ans, ihr Scherf-
lein am Grabe Börne's, dem Altare der Liebe zu den Füßen des deutschen
Volkes niederzulegen. Also wieder eine junge Berlinerin, voran in den
Reihen der Freiheitskämpfer! Und wie ist hier Alles durchdrungen von die¬
sem zersetzenden Hauch der ilöesse lie I-t libertv! Ein liebendes Ehepaar
entzweit sich, weil die Frau den Börne langweilig findet; ein böser Fürst,
ein noch schlimmerer Prinz , ein teuflischer Minister, eine coquette Gräfin
auf der einen Seite; auf der andern ein tugendhafter Prediger, ein repu¬
blikanisch gesinnter Edelmann, ein jüdischer Philosoph und ein liebenswür¬
diges Mädchen, das den Letzteren liebt, und, eine geborne Comtesse, sich nach
jüdischem Ritus mit ihm trauen läßt. Mit großer Genauigkeit wird die
poetische Gerechtigkeit ausgeübt: wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die
Tugend zu Tisch. Ein neuer Fürst, in den Grundsätzen Börne's erzogen,
kommt zur Negierung, beruft sofort eine Volksversammlung, und läßt die
bösen Minister, Hofräthe, Günstlinge u. s. w. von derselben richten. Das
Volk erweist sich so gerecht als großmüthig; selbst jener Minister wird nicht
mit dem Tode bestraft, obgleich der Fürst os dein Volke anbietet; er wird


erinnere sich, daß in neuester Zeit das Prinzip des Egoismus von einer
jungen Philosophenschule als das allein wahre, allen humanen Tenden¬
zen entgegengestellt wurde; mau triumphirte, eine neue Welt entdeckt zu
haben, weil man in abstracten Formeln und mit philosophischer Parrhesie
aussprach, was alle Welt schon wußte und ausübte. Paradoxie ist nichts an¬
deres, als eine Wahrheit von Einer Seite angesehen. „Das Dichten und
Trachten der Menschen ist auf Wahn gegründet," „die Sprache ist erfunden,
um die Gedanken zu verbergen," das alles ist nicht unwahr, sondern nur
einseitig, und eben darum pikant. Von den übrigen kleinern Piecen dieser
Sammlung sind die frivolen am Besten gelungen, z. B. der rothe Zwerg,
der Page Karl des Großen u. s. w., einige Male hat der Dichter sich auch
im Grauslichen, oder wenn man will, im Tragischen versucht, z. B. „die
Todtenhand," aber mit geringem Erfolg. Am Meisten mißrathen ist eine
allegorische Dichtung.

Sternberg ist ein Mährchendichter, wenn man unter Mährchen diese
Auffassung des Lebens versteht, die damit spielt und tändelt. Einen Ge¬
gensatz dazu bildet ein zweites Buch: Die Jünger Börne'S. Ein
Roman von Minna Wauer. (Berlin, Hirschfeld). Die Verfasserin, Toch¬
ter eines k. preuß. Hofschauspielers, der die Wachtmeister, Zigeunerhaupt¬
leute und sonstige Eisenfresser gibt, dankt in der Vorrede ihrem geliebten
Vater für die Freiheit, die er ihrem Leben und ihrer Bildung gegeben, stellt
ihn neben Börne, den „Erlöser des Geists," und fordert ihn ans, ihr Scherf-
lein am Grabe Börne's, dem Altare der Liebe zu den Füßen des deutschen
Volkes niederzulegen. Also wieder eine junge Berlinerin, voran in den
Reihen der Freiheitskämpfer! Und wie ist hier Alles durchdrungen von die¬
sem zersetzenden Hauch der ilöesse lie I-t libertv! Ein liebendes Ehepaar
entzweit sich, weil die Frau den Börne langweilig findet; ein böser Fürst,
ein noch schlimmerer Prinz , ein teuflischer Minister, eine coquette Gräfin
auf der einen Seite; auf der andern ein tugendhafter Prediger, ein repu¬
blikanisch gesinnter Edelmann, ein jüdischer Philosoph und ein liebenswür¬
diges Mädchen, das den Letzteren liebt, und, eine geborne Comtesse, sich nach
jüdischem Ritus mit ihm trauen läßt. Mit großer Genauigkeit wird die
poetische Gerechtigkeit ausgeübt: wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die
Tugend zu Tisch. Ein neuer Fürst, in den Grundsätzen Börne's erzogen,
kommt zur Negierung, beruft sofort eine Volksversammlung, und läßt die
bösen Minister, Hofräthe, Günstlinge u. s. w. von derselben richten. Das
Volk erweist sich so gerecht als großmüthig; selbst jener Minister wird nicht
mit dem Tode bestraft, obgleich der Fürst os dein Volke anbietet; er wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/342>, abgerufen am 01.09.2024.