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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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es war in allen diesen Fällen außer Zweifel , daß der Einbruch nicht des
Diebstahls wegen geschehen war, sondern in der Absicht, ein fröhliches Ge¬
lage zu halten.

So sind die Menschen beschaffen, die täglich unsere Mildthätigkeit in
Anspruch nehmen. Wer also blindlings Almosen gibt, wähne nicht, Gutes
gestiftet oder gar, wie alle Religionen lehren, etwas Gottgefälliges gethan
zu haben. In neunzig Fällen uuter hundert wird er der Sünde und dem
Laster damit Vorschub leiste" und also der Religion zuwider Handel", deren
Gebot sich umgekehrt hat, und nunmehr lautet: "Fluch denen, die Almosen
geben!" Doch ich weiß es nur zu wohl, daß man meistens weder aus
religiösem Gefühle, noch aus Mitleid gibt, sondern aus einem gewissen
ästhetischen Instinkte, weil der Anblick des Elends unser Auge beleidigt und
wir solch' widerlichen Eindruck durch ein Almosen verwischen, das unsern
eigenen ästhetischen Gegensatz uns zum Bewußtsein bringt.

Das Proletariat in der traurigen Gestalt, wie ich es zu schildern ver¬
sucht habe, als in sich abgeschlossene Gesellschaft, auf der tiefste" Stufe der
Entsittlichung und als prinzipiell ankämpfend gegen die bestehende Gesell¬
schaft, ist hauptsächlich darum so sehr zu fürchten, weil es die Bedingungen
seines Gedeihens und Wachsens in sich selbst und in unsern sozialen Ver¬
hältnissen findet. --- Schon allein die eigenen zahlreichen Kinder würden
unserem Proletariat eine Zukunft sichern; aber es besitzt außerdem in der
behaglichen Existenz ohne anstrengende Arbeit, die es bietet und in dem
verführerischen eines nomadisirenden Lebens, einen Reiz und eine Lockung,
welche ihm jährlich tausende von Ucberläuseru zuführen aus dem andern
Proletariate, wo bei der ausschweifendsten Arbeit die grenzenloseste Noth
herrscht, und welches seinerseits in der fortschreitenden Entwerthung der
Arbeit, gegenüber dem Kapital in riesenhaften Progressionen zunimmt.

So greift denn dieser Krebsschaden der Gesellschaft immer weiter um
sich und droht sie gänzlich zu verderben. Die Zukunft umwölkt sich mehr
und mehr, die Aussichten verfinstern sich und auf ein Besserwerden ist kaum
eine Hoffnung da.

Und was geschieht in dieser furchtbaren Lage, um der Gefahr zu ent¬
gehen? Elende Palliativmittelchen werden vorgeschlagen und zuweilen auch
ausgeführt; schwache Vereine werden gestiftet, worin viel von Humanität
gesprochen, aber wenig oder nichts gethan wird -- das ist alles! Die
Wissenschaft, die allein die Wege zu erforschen vermag, auf denen die mersch,
liebe Gesellschaft dein drohenden Verderben entrinnen kaun, wird gebunden,
ja verfolgt, sobald sie soziale Tendenzen offenbarte.


es war in allen diesen Fällen außer Zweifel , daß der Einbruch nicht des
Diebstahls wegen geschehen war, sondern in der Absicht, ein fröhliches Ge¬
lage zu halten.

So sind die Menschen beschaffen, die täglich unsere Mildthätigkeit in
Anspruch nehmen. Wer also blindlings Almosen gibt, wähne nicht, Gutes
gestiftet oder gar, wie alle Religionen lehren, etwas Gottgefälliges gethan
zu haben. In neunzig Fällen uuter hundert wird er der Sünde und dem
Laster damit Vorschub leiste» und also der Religion zuwider Handel», deren
Gebot sich umgekehrt hat, und nunmehr lautet: „Fluch denen, die Almosen
geben!" Doch ich weiß es nur zu wohl, daß man meistens weder aus
religiösem Gefühle, noch aus Mitleid gibt, sondern aus einem gewissen
ästhetischen Instinkte, weil der Anblick des Elends unser Auge beleidigt und
wir solch' widerlichen Eindruck durch ein Almosen verwischen, das unsern
eigenen ästhetischen Gegensatz uns zum Bewußtsein bringt.

Das Proletariat in der traurigen Gestalt, wie ich es zu schildern ver¬
sucht habe, als in sich abgeschlossene Gesellschaft, auf der tiefste» Stufe der
Entsittlichung und als prinzipiell ankämpfend gegen die bestehende Gesell¬
schaft, ist hauptsächlich darum so sehr zu fürchten, weil es die Bedingungen
seines Gedeihens und Wachsens in sich selbst und in unsern sozialen Ver¬
hältnissen findet. -— Schon allein die eigenen zahlreichen Kinder würden
unserem Proletariat eine Zukunft sichern; aber es besitzt außerdem in der
behaglichen Existenz ohne anstrengende Arbeit, die es bietet und in dem
verführerischen eines nomadisirenden Lebens, einen Reiz und eine Lockung,
welche ihm jährlich tausende von Ucberläuseru zuführen aus dem andern
Proletariate, wo bei der ausschweifendsten Arbeit die grenzenloseste Noth
herrscht, und welches seinerseits in der fortschreitenden Entwerthung der
Arbeit, gegenüber dem Kapital in riesenhaften Progressionen zunimmt.

So greift denn dieser Krebsschaden der Gesellschaft immer weiter um
sich und droht sie gänzlich zu verderben. Die Zukunft umwölkt sich mehr
und mehr, die Aussichten verfinstern sich und auf ein Besserwerden ist kaum
eine Hoffnung da.

Und was geschieht in dieser furchtbaren Lage, um der Gefahr zu ent¬
gehen? Elende Palliativmittelchen werden vorgeschlagen und zuweilen auch
ausgeführt; schwache Vereine werden gestiftet, worin viel von Humanität
gesprochen, aber wenig oder nichts gethan wird — das ist alles! Die
Wissenschaft, die allein die Wege zu erforschen vermag, auf denen die mersch,
liebe Gesellschaft dein drohenden Verderben entrinnen kaun, wird gebunden,
ja verfolgt, sobald sie soziale Tendenzen offenbarte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/292>, abgerufen am 01.09.2024.