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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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So wesentlich sah sich damals die Gesellschaft in ihren Grundlagen be¬
droht. Und doch hatten die Empörten in Lyon das Eigenthum nicht nur
geschont, sondern sogar die größte Achtung vor demselben bewiesen, indem
sie vor den Palästen ihrer hartherzigen Bedrücker Wachen aufstellten, damit
an deu Schätzen, die aus ihrem Schweiße erpreßt waren, sich Niemand ver¬
greifen möchte. Jene Unglücklichen wären mit der Feststellung eines Tarifes
zufrieden gewesen, der ihre Lage, wenn anch nicht verbessert, doch wenigstens
vor weiterer Verschlimmerung gesichert hätte.

Betrachte" wir dagegen die zahlreichen Theueruugsunruhcn der jüngst
verflossenen Zeit in unserem Deutschland, welch' ungeheurer Unterschied!

Der Aufstand in Lyon brach erst dann aus, als die friedlich und be¬
scheiden vorgebrachte" Forderungen der Seidenarbeiter unberücksichtigt ge¬
blieben, ja schnöde zurückgewiesen wäre" und ihnen kein anderer Aus¬
weg mehr offen stand. Unsere Theucruugsunruben dagegen traten in einer
Zeit el", als alle Regierungen und fast alle größere Gemeinden Getreide
anschafften, Brot zu billige" Preisen verkauften und an ganz Unbemittelte
umsonst abließen. Dort war der Aufstand geordnet und nur anf den be¬
stimmten Zweck gerichtet, eine" Tarif für deu Preis der Arbeit z" erlangen,
und das Eigenthum wurde geachtet, -- hier tobte die Wuth eines zügellosen
Haufens und die Zerstörungslust erging sich anch da, wo ans eine Beute
nicht zu rechnen war. Die Untersuchungen haben es erwiesen, daß die große
Mehrzahl dieser Tumultuanten zusammengelaufenes Gesindel war, arbeits¬
scheue Lagabuudcu, GcwohnheitSbettler, entsittlichte Handwerksbursche nud
liederliche Weiber. In Lyon dagegen war es eine Klasse sonst ehrbarer
Mensche", die sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben und
die selbst dann, als sie schon des Sieges gewiß waren, einen Vergleich noch
annehmen wollten.

Diesen Charakter sittlicher Größe rrägt das Proletariat, wie wir es in
den jüngste" Tage" keimen lernte", nicht mehr. Indem man alle Bestre¬
bungen, den sozialen Mängeln auf dem Wege friedlicher Reform abzuhelfen,
als communistisch und Verderben drohend unterdrückte, hat mau die leiden¬
de" Klassen gezwungen, ihr Dasei" auf eine andere Weise zu fristen. Und
so hat sich denn mitten in unserer vielgepriesenen, wohlgeordneten Gesellschaft,
außerhalb des Gesetzes eine andere gebildet, welche so zu sagen die Verzer¬
rung, die Carricatur der gesetzlichen ist, die mit jedem Jahre zunimmt, die
alle moralischen Güter zu vernichten und jeden materiellen Genuß zu ver¬
kümmern droht.

Tausende von Bettlern und Vagabunden durchziehen das Land, gleich


So wesentlich sah sich damals die Gesellschaft in ihren Grundlagen be¬
droht. Und doch hatten die Empörten in Lyon das Eigenthum nicht nur
geschont, sondern sogar die größte Achtung vor demselben bewiesen, indem
sie vor den Palästen ihrer hartherzigen Bedrücker Wachen aufstellten, damit
an deu Schätzen, die aus ihrem Schweiße erpreßt waren, sich Niemand ver¬
greifen möchte. Jene Unglücklichen wären mit der Feststellung eines Tarifes
zufrieden gewesen, der ihre Lage, wenn anch nicht verbessert, doch wenigstens
vor weiterer Verschlimmerung gesichert hätte.

Betrachte» wir dagegen die zahlreichen Theueruugsunruhcn der jüngst
verflossenen Zeit in unserem Deutschland, welch' ungeheurer Unterschied!

Der Aufstand in Lyon brach erst dann aus, als die friedlich und be¬
scheiden vorgebrachte» Forderungen der Seidenarbeiter unberücksichtigt ge¬
blieben, ja schnöde zurückgewiesen wäre» und ihnen kein anderer Aus¬
weg mehr offen stand. Unsere Theucruugsunruben dagegen traten in einer
Zeit el», als alle Regierungen und fast alle größere Gemeinden Getreide
anschafften, Brot zu billige» Preisen verkauften und an ganz Unbemittelte
umsonst abließen. Dort war der Aufstand geordnet und nur anf den be¬
stimmten Zweck gerichtet, eine» Tarif für deu Preis der Arbeit z» erlangen,
und das Eigenthum wurde geachtet, — hier tobte die Wuth eines zügellosen
Haufens und die Zerstörungslust erging sich anch da, wo ans eine Beute
nicht zu rechnen war. Die Untersuchungen haben es erwiesen, daß die große
Mehrzahl dieser Tumultuanten zusammengelaufenes Gesindel war, arbeits¬
scheue Lagabuudcu, GcwohnheitSbettler, entsittlichte Handwerksbursche nud
liederliche Weiber. In Lyon dagegen war es eine Klasse sonst ehrbarer
Mensche», die sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben und
die selbst dann, als sie schon des Sieges gewiß waren, einen Vergleich noch
annehmen wollten.

Diesen Charakter sittlicher Größe rrägt das Proletariat, wie wir es in
den jüngste» Tage» keimen lernte», nicht mehr. Indem man alle Bestre¬
bungen, den sozialen Mängeln auf dem Wege friedlicher Reform abzuhelfen,
als communistisch und Verderben drohend unterdrückte, hat mau die leiden¬
de» Klassen gezwungen, ihr Dasei» auf eine andere Weise zu fristen. Und
so hat sich denn mitten in unserer vielgepriesenen, wohlgeordneten Gesellschaft,
außerhalb des Gesetzes eine andere gebildet, welche so zu sagen die Verzer¬
rung, die Carricatur der gesetzlichen ist, die mit jedem Jahre zunimmt, die
alle moralischen Güter zu vernichten und jeden materiellen Genuß zu ver¬
kümmern droht.

Tausende von Bettlern und Vagabunden durchziehen das Land, gleich


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[0287] So wesentlich sah sich damals die Gesellschaft in ihren Grundlagen be¬ droht. Und doch hatten die Empörten in Lyon das Eigenthum nicht nur geschont, sondern sogar die größte Achtung vor demselben bewiesen, indem sie vor den Palästen ihrer hartherzigen Bedrücker Wachen aufstellten, damit an deu Schätzen, die aus ihrem Schweiße erpreßt waren, sich Niemand ver¬ greifen möchte. Jene Unglücklichen wären mit der Feststellung eines Tarifes zufrieden gewesen, der ihre Lage, wenn anch nicht verbessert, doch wenigstens vor weiterer Verschlimmerung gesichert hätte. Betrachte» wir dagegen die zahlreichen Theueruugsunruhcn der jüngst verflossenen Zeit in unserem Deutschland, welch' ungeheurer Unterschied! Der Aufstand in Lyon brach erst dann aus, als die friedlich und be¬ scheiden vorgebrachte» Forderungen der Seidenarbeiter unberücksichtigt ge¬ blieben, ja schnöde zurückgewiesen wäre» und ihnen kein anderer Aus¬ weg mehr offen stand. Unsere Theucruugsunruben dagegen traten in einer Zeit el», als alle Regierungen und fast alle größere Gemeinden Getreide anschafften, Brot zu billige» Preisen verkauften und an ganz Unbemittelte umsonst abließen. Dort war der Aufstand geordnet und nur anf den be¬ stimmten Zweck gerichtet, eine» Tarif für deu Preis der Arbeit z» erlangen, und das Eigenthum wurde geachtet, — hier tobte die Wuth eines zügellosen Haufens und die Zerstörungslust erging sich anch da, wo ans eine Beute nicht zu rechnen war. Die Untersuchungen haben es erwiesen, daß die große Mehrzahl dieser Tumultuanten zusammengelaufenes Gesindel war, arbeits¬ scheue Lagabuudcu, GcwohnheitSbettler, entsittlichte Handwerksbursche nud liederliche Weiber. In Lyon dagegen war es eine Klasse sonst ehrbarer Mensche», die sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben und die selbst dann, als sie schon des Sieges gewiß waren, einen Vergleich noch annehmen wollten. Diesen Charakter sittlicher Größe rrägt das Proletariat, wie wir es in den jüngste» Tage» keimen lernte», nicht mehr. Indem man alle Bestre¬ bungen, den sozialen Mängeln auf dem Wege friedlicher Reform abzuhelfen, als communistisch und Verderben drohend unterdrückte, hat mau die leiden¬ de» Klassen gezwungen, ihr Dasei» auf eine andere Weise zu fristen. Und so hat sich denn mitten in unserer vielgepriesenen, wohlgeordneten Gesellschaft, außerhalb des Gesetzes eine andere gebildet, welche so zu sagen die Verzer¬ rung, die Carricatur der gesetzlichen ist, die mit jedem Jahre zunimmt, die alle moralischen Güter zu vernichten und jeden materiellen Genuß zu ver¬ kümmern droht. Tausende von Bettlern und Vagabunden durchziehen das Land, gleich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/287>, abgerufen am 01.09.2024.