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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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sondern als der rein practische Staatsmann, der in jedem Augenblick sieht,
wie weit er gehen kann, und dann durch Schrecken ebensowenig als durch
GcmüthSbedenken sich zurückhalten läßt. Die Ueberzeugung des Staatsmanns
bildet sich nicht plötzlich aus zeitlich Gegebenen, sie bewegt und entwickelt
sich mit den Bedürfnissen, mit der öffentlichen Meinung; der Staatsmann
schaut und entschließt sich vom höhern Standpunkt als der Privatmann, be¬
sonders in England, wo ungeachtet den aristokratischen Einrichtungen und
vielleicht kraft derselben, man die öffentliche Meinung und die herrschende
Idee zu Rathe zieht, und wo Personen und Einrichtungen sich auch vom
demokratischen Geist dnrchhauchcn lassen. Nirgends übt man mehr die große
schöne Kunst, der Nation den Puls zu fühlen, als in England.

Darauf wendet sich die Untersuchung auf ein ebenso wichtiges, aber
dunkleres Feld: den Pauperismus in England. Es wird der richtige Grund¬
satz vorausgeschickt: Armuth ist im Grunde der natürliche primitive Zu¬
stand des Menschen; sie ist die Quelle der Arbeit, wie diese die Quelle des
Reichthums. Daher ist nur absolute Armuth, äußerste Noth das Uebel,
dessen Entfernung die Armengesetzgebung bezwecken kann, alle Versuche, die
Armuth selbst durch Gesetze zu vertilgen, würden völlig verkehrt sein. --
"Die eigentliche Quelle des Pauperismus, in England wie
in Irland sind die feudalen und unnatürlichen Besitz - und
Wirthschaftsverhältnisse von Grund und Boden." -- Irland
wird sich nimmer ans seiner allgemeinen Armuth erholen, aus seiner tiefen
Unwissenheit emporheben, so lange nicht dem Unwesen das Abseutismus ge¬
steuert, dem Pachtsystem ein angemessener Rechtsboden gegeben, der Güter-
zerstickelnng ein Damm entgegengestellt wird; so lange ferner nicht die Herr¬
schaft der schmarozirenden Kirche gebrochen und ihr geraubtes Gut wieder
zur Erziehung und zum Heil des armen katholischen Volkes verwandt wird:
kurz, so lauge es nicht frei wird, wie England und Schottland, in seineu
staatlichen, wirthschaftlichen und kirchlichen Verhältnissen."

Höslen verfolgt das Unwesen der irländischen Pachtverhältnisse bis in's
kleinste Detail, und das schauderhafte Elend dieses unglückseligen Volks ent¬
wickelt sich uns daraus viel ergreifender, als es durch eine sentimentale
Schilderung geschehen könnte. Wenn aber der Verfasser dem großen Agi¬
tator eine nur ruhmvolle Rolle zuertheilt, so erscheint uns doch das Wirken
dieses merkwürdigen Mannes bedenklich; wir begreifen nicht, wie ein Volk
dadurch wahrhaft gehoben werden soll, daß mau es in bewußte Illusio¬
nen treibt.


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sondern als der rein practische Staatsmann, der in jedem Augenblick sieht,
wie weit er gehen kann, und dann durch Schrecken ebensowenig als durch
GcmüthSbedenken sich zurückhalten läßt. Die Ueberzeugung des Staatsmanns
bildet sich nicht plötzlich aus zeitlich Gegebenen, sie bewegt und entwickelt
sich mit den Bedürfnissen, mit der öffentlichen Meinung; der Staatsmann
schaut und entschließt sich vom höhern Standpunkt als der Privatmann, be¬
sonders in England, wo ungeachtet den aristokratischen Einrichtungen und
vielleicht kraft derselben, man die öffentliche Meinung und die herrschende
Idee zu Rathe zieht, und wo Personen und Einrichtungen sich auch vom
demokratischen Geist dnrchhauchcn lassen. Nirgends übt man mehr die große
schöne Kunst, der Nation den Puls zu fühlen, als in England.

Darauf wendet sich die Untersuchung auf ein ebenso wichtiges, aber
dunkleres Feld: den Pauperismus in England. Es wird der richtige Grund¬
satz vorausgeschickt: Armuth ist im Grunde der natürliche primitive Zu¬
stand des Menschen; sie ist die Quelle der Arbeit, wie diese die Quelle des
Reichthums. Daher ist nur absolute Armuth, äußerste Noth das Uebel,
dessen Entfernung die Armengesetzgebung bezwecken kann, alle Versuche, die
Armuth selbst durch Gesetze zu vertilgen, würden völlig verkehrt sein. —
„Die eigentliche Quelle des Pauperismus, in England wie
in Irland sind die feudalen und unnatürlichen Besitz - und
Wirthschaftsverhältnisse von Grund und Boden." — Irland
wird sich nimmer ans seiner allgemeinen Armuth erholen, aus seiner tiefen
Unwissenheit emporheben, so lange nicht dem Unwesen das Abseutismus ge¬
steuert, dem Pachtsystem ein angemessener Rechtsboden gegeben, der Güter-
zerstickelnng ein Damm entgegengestellt wird; so lange ferner nicht die Herr¬
schaft der schmarozirenden Kirche gebrochen und ihr geraubtes Gut wieder
zur Erziehung und zum Heil des armen katholischen Volkes verwandt wird:
kurz, so lauge es nicht frei wird, wie England und Schottland, in seineu
staatlichen, wirthschaftlichen und kirchlichen Verhältnissen."

Höslen verfolgt das Unwesen der irländischen Pachtverhältnisse bis in's
kleinste Detail, und das schauderhafte Elend dieses unglückseligen Volks ent¬
wickelt sich uns daraus viel ergreifender, als es durch eine sentimentale
Schilderung geschehen könnte. Wenn aber der Verfasser dem großen Agi¬
tator eine nur ruhmvolle Rolle zuertheilt, so erscheint uns doch das Wirken
dieses merkwürdigen Mannes bedenklich; wir begreifen nicht, wie ein Volk
dadurch wahrhaft gehoben werden soll, daß mau es in bewußte Illusio¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/245>, abgerufen am 01.09.2024.