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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Hier liegt der Keim des heutigen Corruptionssystems. Das Kaiser¬
tum fußte seiue Macht im Innern auf dasselbe, Napoleon suchte sich die
Leute heraus, die er durch ihre Leidenschaften an sich fesseln zu sonnen hoffte,
und band sie "an die Krippe" fest, aus der er ihnen nach Herzenslust zu
essen erlaubte. Die äußern Kriege gaben Gelegenheit dies System dein
Auslande gegenüber in's Große zu treiben. Die MarsclMe und Günstlinge
Napoleons wurden fast alle Millionäre, sammelten im Auslande Kunst- und
andere Schätze. Unter der Restauration ging'S in etwas ehrlicher zu; mau
mied den Schein, aber in der That herrschte doch vielfach napoleonische Ad¬
ministration. Die Julirevolution rief die Napoleouisteu wieder an's Ruder.
Soult und Cubierc, Teste und Pelapra wurden, jeder in seiner Art, Haupt¬
leiter der administrativen Thätigkeit. Louis Philipp -- zur Zeit Cascmir
Perriers -- glaubte das napoleonische System des "An-die-Krippe-hin-
ters" zur Sicherung einer ergebenen Majorität zu bedürfen, und so ging
deun die Sache wieder viel toller los als je vorher. Die Herrschet der
Bank- und Börsenbarone kam hinzu; die Telegrapheugcschichten helfen nach;
die Eisenbahuspeculationcn thaten ein Letztes. Genug, der Schwindel im
äußern Leben wurde allgemein, und so brachen endlich die Eiterbeulen ein
allen Enden auf.

Das Haschen nach Haben und Mehrhaben erhielt die Oberhand; das
öffentliche Moralgefühl wurde abgestumpft, und ganz besonders dem Staate,
dem Schatze und alles, was mit ihm zusammenhängt, gegenüber. Ob der
Kern der Franzosen diese Modekrankheit wieder abschütteln wird, wird die
Zukunft lehren müssen, daß nicht alle guten Eigenschaften untergegangen
sind, weiß Jeder, der längere Zeit in Frankreich gelebt hat; aber auch,
daß sie gar sehr in Gefahr sind. Die Korruption liegt nicht nur in den
höheren und höchsten Regionen, sie bringt auch bis in die tieferen Schichten
des Volkslebens. Man kann davon alle Tage Beispiele genug in den Zei¬
tungen lesen, auf allen Wegen und Straße" erlebe". Vor ein paar Tagen
wollte sich Jemand in Rouen ersäufen. Er warf seine Jacke ab und stürzte
sich in die Seine. Ein paar edle Männer stürzten ihm nach und retteten
ihn -- aber unterdeß stahlen Diebe seine Jacke. Das ist der Gegensatz,
der noch oft genug vorkommt. Ich sah einen ähnlichen Gegensatz mit eige¬
nen Augen an. Ein Manu, der seine Pferde in der Seine abspülen wollte,
wurde von dieser mit fortgerissen und ertrank. Augenblicklich waren eine
Menge Fischerkähne auf der Stelle, wo er untergegangen war und suchten
ihn mit ihren Haken zu fassen. Dabei gingen sie aber so zu Werke, daß
wenn sie ihn getroffen, ihn jedenfalls durchbohrt haben würden- Ich drückte


Hier liegt der Keim des heutigen Corruptionssystems. Das Kaiser¬
tum fußte seiue Macht im Innern auf dasselbe, Napoleon suchte sich die
Leute heraus, die er durch ihre Leidenschaften an sich fesseln zu sonnen hoffte,
und band sie „an die Krippe" fest, aus der er ihnen nach Herzenslust zu
essen erlaubte. Die äußern Kriege gaben Gelegenheit dies System dein
Auslande gegenüber in's Große zu treiben. Die MarsclMe und Günstlinge
Napoleons wurden fast alle Millionäre, sammelten im Auslande Kunst- und
andere Schätze. Unter der Restauration ging'S in etwas ehrlicher zu; mau
mied den Schein, aber in der That herrschte doch vielfach napoleonische Ad¬
ministration. Die Julirevolution rief die Napoleouisteu wieder an's Ruder.
Soult und Cubierc, Teste und Pelapra wurden, jeder in seiner Art, Haupt¬
leiter der administrativen Thätigkeit. Louis Philipp — zur Zeit Cascmir
Perriers — glaubte das napoleonische System des „An-die-Krippe-hin-
ters" zur Sicherung einer ergebenen Majorität zu bedürfen, und so ging
deun die Sache wieder viel toller los als je vorher. Die Herrschet der
Bank- und Börsenbarone kam hinzu; die Telegrapheugcschichten helfen nach;
die Eisenbahuspeculationcn thaten ein Letztes. Genug, der Schwindel im
äußern Leben wurde allgemein, und so brachen endlich die Eiterbeulen ein
allen Enden auf.

Das Haschen nach Haben und Mehrhaben erhielt die Oberhand; das
öffentliche Moralgefühl wurde abgestumpft, und ganz besonders dem Staate,
dem Schatze und alles, was mit ihm zusammenhängt, gegenüber. Ob der
Kern der Franzosen diese Modekrankheit wieder abschütteln wird, wird die
Zukunft lehren müssen, daß nicht alle guten Eigenschaften untergegangen
sind, weiß Jeder, der längere Zeit in Frankreich gelebt hat; aber auch,
daß sie gar sehr in Gefahr sind. Die Korruption liegt nicht nur in den
höheren und höchsten Regionen, sie bringt auch bis in die tieferen Schichten
des Volkslebens. Man kann davon alle Tage Beispiele genug in den Zei¬
tungen lesen, auf allen Wegen und Straße» erlebe«. Vor ein paar Tagen
wollte sich Jemand in Rouen ersäufen. Er warf seine Jacke ab und stürzte
sich in die Seine. Ein paar edle Männer stürzten ihm nach und retteten
ihn — aber unterdeß stahlen Diebe seine Jacke. Das ist der Gegensatz,
der noch oft genug vorkommt. Ich sah einen ähnlichen Gegensatz mit eige¬
nen Augen an. Ein Manu, der seine Pferde in der Seine abspülen wollte,
wurde von dieser mit fortgerissen und ertrank. Augenblicklich waren eine
Menge Fischerkähne auf der Stelle, wo er untergegangen war und suchten
ihn mit ihren Haken zu fassen. Dabei gingen sie aber so zu Werke, daß
wenn sie ihn getroffen, ihn jedenfalls durchbohrt haben würden- Ich drückte


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[0228] Hier liegt der Keim des heutigen Corruptionssystems. Das Kaiser¬ tum fußte seiue Macht im Innern auf dasselbe, Napoleon suchte sich die Leute heraus, die er durch ihre Leidenschaften an sich fesseln zu sonnen hoffte, und band sie „an die Krippe" fest, aus der er ihnen nach Herzenslust zu essen erlaubte. Die äußern Kriege gaben Gelegenheit dies System dein Auslande gegenüber in's Große zu treiben. Die MarsclMe und Günstlinge Napoleons wurden fast alle Millionäre, sammelten im Auslande Kunst- und andere Schätze. Unter der Restauration ging'S in etwas ehrlicher zu; mau mied den Schein, aber in der That herrschte doch vielfach napoleonische Ad¬ ministration. Die Julirevolution rief die Napoleouisteu wieder an's Ruder. Soult und Cubierc, Teste und Pelapra wurden, jeder in seiner Art, Haupt¬ leiter der administrativen Thätigkeit. Louis Philipp — zur Zeit Cascmir Perriers — glaubte das napoleonische System des „An-die-Krippe-hin- ters" zur Sicherung einer ergebenen Majorität zu bedürfen, und so ging deun die Sache wieder viel toller los als je vorher. Die Herrschet der Bank- und Börsenbarone kam hinzu; die Telegrapheugcschichten helfen nach; die Eisenbahuspeculationcn thaten ein Letztes. Genug, der Schwindel im äußern Leben wurde allgemein, und so brachen endlich die Eiterbeulen ein allen Enden auf. Das Haschen nach Haben und Mehrhaben erhielt die Oberhand; das öffentliche Moralgefühl wurde abgestumpft, und ganz besonders dem Staate, dem Schatze und alles, was mit ihm zusammenhängt, gegenüber. Ob der Kern der Franzosen diese Modekrankheit wieder abschütteln wird, wird die Zukunft lehren müssen, daß nicht alle guten Eigenschaften untergegangen sind, weiß Jeder, der längere Zeit in Frankreich gelebt hat; aber auch, daß sie gar sehr in Gefahr sind. Die Korruption liegt nicht nur in den höheren und höchsten Regionen, sie bringt auch bis in die tieferen Schichten des Volkslebens. Man kann davon alle Tage Beispiele genug in den Zei¬ tungen lesen, auf allen Wegen und Straße» erlebe«. Vor ein paar Tagen wollte sich Jemand in Rouen ersäufen. Er warf seine Jacke ab und stürzte sich in die Seine. Ein paar edle Männer stürzten ihm nach und retteten ihn — aber unterdeß stahlen Diebe seine Jacke. Das ist der Gegensatz, der noch oft genug vorkommt. Ich sah einen ähnlichen Gegensatz mit eige¬ nen Augen an. Ein Manu, der seine Pferde in der Seine abspülen wollte, wurde von dieser mit fortgerissen und ertrank. Augenblicklich waren eine Menge Fischerkähne auf der Stelle, wo er untergegangen war und suchten ihn mit ihren Haken zu fassen. Dabei gingen sie aber so zu Werke, daß wenn sie ihn getroffen, ihn jedenfalls durchbohrt haben würden- Ich drückte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/228>, abgerufen am 27.07.2024.