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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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so gar scheinend aussehe in der Trauer." -- Was bewegt diese armen Leute
nur hierher auszuwandern, dem Orte, wo vor jedem andern der Welt der
Fremde ungesehen, ungehört, unbemerkt verhungern kann? Ist eS denn
durchaus eine Sache der Unmöglichkeit, den Bewohner" des Continents be¬
greiflich zu machen, daß London für den Arbeitsuchenden kein Eldorado
ist? -- Es scheint, als solle keine Erfahrung des Einzelnen dem Wohle
Aller zu Gute kommen! --

Während nun aber die Mittelklasse der Engländer sich vergnügt ans
dem Verdeck der gedrängtvollen Schisse im glühenden Sonnenscheine badet
und froh ist, dies nnr zu können, weil es noch das Beste ist, was sie je
von einem Sonntag gelaunt haben -- was thun indessen die zahllosen
Fremden der großen Weltstadt und was meine 40,000 Compatrioten? In
die Kirche gehen sie nicht, das ist gewiß. Weder jene, die hier mit ihren
Familien als Kaufleute ansäßig leben, noch die Junggesellen, die durch kein
Band des Familienlebens an ihre Wohnung gefesselt siud, sieht man zu
einem solchen Gange aufgelegt. Ich will damit nicht sagen, daß es thuen
an religiösem Gefühl fehle; gewiß nicht. Das spricht sich aber anch nicht
gerade in Beobachtung üblicher Forme" aus. Nur andeuten will ich, daß
sie in diesem Bezug den Gewohnheiten des Landes widerstehen und den
Sitten der Fremden durchaus fremd bleiben. Die deutscheu Kirchen sind
dennoch sehr leer, besonders außer der Saison. In diesem Augenblick, wo
so manche hier anwesende Fremde dieselben aussuchen und wo die zum Par¬
lament eingetroffenen Mitglieder und Großen des Reiches ihre Opferthiere,
die deutschen Lehrerinnen, mit sich geführt haben, bemerkt man diese Leere
weniger; denn die letzteren siud besonders fleißige Kirchengängerinnen. In
manchen Fällen ist dies die einzige Veränderung ihres einförmigen Lebens
und wird als solche mit wahrer Frende von ihnen begrüßt. -- Die jungen
City-Deutschen aber schlafen lange, frühstücken gemächlich, machen dann
Besuche bei ihren Bekannten und bringen den Abend bei Freunden zu.
Es gibt gewiß uur wenige derselben hier, die nicht die eine oder die andere
deutsche Familie kennen, bei der sie als Gast eingeladen würden. Junge
Männer führen sich immer leicht ein. Für die deutschen Mädchen aber ist es
schlimmer und oft ganz schlimm. Ihnen bleibt nach ihrem Kirchgange mei¬
stens nichts übrig, als in ihr Gefängniß zurückzukehren. Diejenigen, die
als Klavierspielerinnen, Malerinnen oder dergleichen sich eine'Art unabhän¬
giger Existenz gegründet haben, finden es leichter einige Bekanntschaften zu
machen; doch bleibt auch ihr Leben ein sehr vereinsamtes. Jede Kunst, die
nach Brot geht, wird zu gering geachtet. Die Cirkel, in die sie sich em-


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so gar scheinend aussehe in der Trauer." — Was bewegt diese armen Leute
nur hierher auszuwandern, dem Orte, wo vor jedem andern der Welt der
Fremde ungesehen, ungehört, unbemerkt verhungern kann? Ist eS denn
durchaus eine Sache der Unmöglichkeit, den Bewohner» des Continents be¬
greiflich zu machen, daß London für den Arbeitsuchenden kein Eldorado
ist? — Es scheint, als solle keine Erfahrung des Einzelnen dem Wohle
Aller zu Gute kommen! —

Während nun aber die Mittelklasse der Engländer sich vergnügt ans
dem Verdeck der gedrängtvollen Schisse im glühenden Sonnenscheine badet
und froh ist, dies nnr zu können, weil es noch das Beste ist, was sie je
von einem Sonntag gelaunt haben — was thun indessen die zahllosen
Fremden der großen Weltstadt und was meine 40,000 Compatrioten? In
die Kirche gehen sie nicht, das ist gewiß. Weder jene, die hier mit ihren
Familien als Kaufleute ansäßig leben, noch die Junggesellen, die durch kein
Band des Familienlebens an ihre Wohnung gefesselt siud, sieht man zu
einem solchen Gange aufgelegt. Ich will damit nicht sagen, daß es thuen
an religiösem Gefühl fehle; gewiß nicht. Das spricht sich aber anch nicht
gerade in Beobachtung üblicher Forme» aus. Nur andeuten will ich, daß
sie in diesem Bezug den Gewohnheiten des Landes widerstehen und den
Sitten der Fremden durchaus fremd bleiben. Die deutscheu Kirchen sind
dennoch sehr leer, besonders außer der Saison. In diesem Augenblick, wo
so manche hier anwesende Fremde dieselben aussuchen und wo die zum Par¬
lament eingetroffenen Mitglieder und Großen des Reiches ihre Opferthiere,
die deutschen Lehrerinnen, mit sich geführt haben, bemerkt man diese Leere
weniger; denn die letzteren siud besonders fleißige Kirchengängerinnen. In
manchen Fällen ist dies die einzige Veränderung ihres einförmigen Lebens
und wird als solche mit wahrer Frende von ihnen begrüßt. — Die jungen
City-Deutschen aber schlafen lange, frühstücken gemächlich, machen dann
Besuche bei ihren Bekannten und bringen den Abend bei Freunden zu.
Es gibt gewiß uur wenige derselben hier, die nicht die eine oder die andere
deutsche Familie kennen, bei der sie als Gast eingeladen würden. Junge
Männer führen sich immer leicht ein. Für die deutschen Mädchen aber ist es
schlimmer und oft ganz schlimm. Ihnen bleibt nach ihrem Kirchgange mei¬
stens nichts übrig, als in ihr Gefängniß zurückzukehren. Diejenigen, die
als Klavierspielerinnen, Malerinnen oder dergleichen sich eine'Art unabhän¬
giger Existenz gegründet haben, finden es leichter einige Bekanntschaften zu
machen; doch bleibt auch ihr Leben ein sehr vereinsamtes. Jede Kunst, die
nach Brot geht, wird zu gering geachtet. Die Cirkel, in die sie sich em-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/185>, abgerufen am 01.09.2024.