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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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wird ihr nicht gerade nachsagen, daß sie poetisch ist. Sie hat ihre Schillerfcste,
in Gohlis hat Schiller sein Lied an die Frende geschrieben, sie hat ihren Rcde-
vcrein, ihre Gösen, ihre Vürgergardc, aber sie ist nicht gerade poetisch. Auch
die Lerchen hat man lieber gebraten.

Und doch ist Leipzig gestern poetisch gewesen.

Man gab die "Nachtwandlerin/' eine von den Lcierkastcnopern, die für
ein italienisches Stimminstrument geschrieben sind, mit einem Text, auf den
lüsternen Pariser berechnet. Man kann nicht sagen, daß diese Oper poetisch
ist. Und darin trat ein liebliches Mädchen auf, die ein Poet mit fabel¬
haften Vergleichungen überhäufen würde, z. B. mit einer Rosenknospe, die
eben im Begriff ist, aufzubrechen; die ich aber, da ich dergleichen brodlose
Künste nicht treibe, nur ein liebes Mädchen nennen will. Und sie war so
glücklich in ihrer Beschäftigung und sah die Leute so freundlich an, und sang
so unbefangen, daß nach einigen Augenblicken verwunderten Schweigens die Ta-
rantel in die' Hände und Füße der Zuhörer gefahren zu sein schien -- glück¬
licher Weise bestand die Mehrzahl des Auditoriums aus Studenten, und die
haben in dergleichen immer das richtigste Urtheil. -- Eine wunderliche Nacht¬
wandlerin! sie schaute mit so klaren Augen drein, daß nur der närrische Graf
sie für somnambul halten konnte; Keiner im Publikum hat es geglaubt; sie wollte
den eingebildeten Burschen mir vexiren, den sie gar nicht leiden konnte; denn
seht nur, wie sie sich die Hand abwischte, als er sie gedrückt hatte; wäre mir
das begegnet, ich hätte mich geärgert. Auch nachher, als der Bräutigam den
Verzweifelten und Wüthenden spielte, hat sie sich nicht täuschen lassen; sie warf
so schelmische Seitenblicke auf ihn, als wollte sie sagen: "Habe Dich doch nicht,
guter Freund, wir kennen uns besser! " -- War es nun diese liebliche Naivität,
die von den Dingen, um die es sich handelte. Nichts zu verstehen schien, oder
war eS das blödsinnige Gedudel der Berlinischen Musik, das Publikum schien den
Verstand verloren zu haben; es war kein Klatschen, es war nicht einmal ein
Trampeln, es war eine Art unarticulirten Geheuls! Ich wurde darüber ver¬
drießlich und äußerte es meinem Nachbar, aber der machte mich darauf aufmerk¬
sam, daß ich selber meine Hände wund geschlagen hatte und daß mein Stock im
Eifer des Pochcns zerbrochen war.
'

Es ist angenehm, ein solch Vöglein mitten in dem gezierten Gefühl un¬
serer Zeit. Schade, daß man nicht zugleich Rosenknospe und Centifolie, Mäd¬
chen und große Actrice sein kann. Es wird vielleicht die Zeit kommen, wo
dieser liebe Zugvogel *) eine andere Art von Enthusiasmus erregt; wo sie die
Leidenschaften, die Gedanken fühlt, die in dem wunderbaren Reich der Töne
schlummern, wo sie sich selbst beherrscht, und so auch die Menge. Möge sie
dann nicht vergessen, das sie einmal ein liebes Mädchen war, das, ohne es zu
wissen und zu wolle", einen Augenblick Poesie in das Leben mancher gebildeten
und ungebildeten Leute geworfen hat. Man wird nicht klug, man wird nicht
groß ohne Schmerz und Enttäuschung.

Ein gottloser Poet hat einmal in einer schwachen Stunde ein gemüthliches



*) Frl. Agther aus Wien.

wird ihr nicht gerade nachsagen, daß sie poetisch ist. Sie hat ihre Schillerfcste,
in Gohlis hat Schiller sein Lied an die Frende geschrieben, sie hat ihren Rcde-
vcrein, ihre Gösen, ihre Vürgergardc, aber sie ist nicht gerade poetisch. Auch
die Lerchen hat man lieber gebraten.

Und doch ist Leipzig gestern poetisch gewesen.

Man gab die „Nachtwandlerin/' eine von den Lcierkastcnopern, die für
ein italienisches Stimminstrument geschrieben sind, mit einem Text, auf den
lüsternen Pariser berechnet. Man kann nicht sagen, daß diese Oper poetisch
ist. Und darin trat ein liebliches Mädchen auf, die ein Poet mit fabel¬
haften Vergleichungen überhäufen würde, z. B. mit einer Rosenknospe, die
eben im Begriff ist, aufzubrechen; die ich aber, da ich dergleichen brodlose
Künste nicht treibe, nur ein liebes Mädchen nennen will. Und sie war so
glücklich in ihrer Beschäftigung und sah die Leute so freundlich an, und sang
so unbefangen, daß nach einigen Augenblicken verwunderten Schweigens die Ta-
rantel in die' Hände und Füße der Zuhörer gefahren zu sein schien — glück¬
licher Weise bestand die Mehrzahl des Auditoriums aus Studenten, und die
haben in dergleichen immer das richtigste Urtheil. — Eine wunderliche Nacht¬
wandlerin! sie schaute mit so klaren Augen drein, daß nur der närrische Graf
sie für somnambul halten konnte; Keiner im Publikum hat es geglaubt; sie wollte
den eingebildeten Burschen mir vexiren, den sie gar nicht leiden konnte; denn
seht nur, wie sie sich die Hand abwischte, als er sie gedrückt hatte; wäre mir
das begegnet, ich hätte mich geärgert. Auch nachher, als der Bräutigam den
Verzweifelten und Wüthenden spielte, hat sie sich nicht täuschen lassen; sie warf
so schelmische Seitenblicke auf ihn, als wollte sie sagen: „Habe Dich doch nicht,
guter Freund, wir kennen uns besser! " — War es nun diese liebliche Naivität,
die von den Dingen, um die es sich handelte. Nichts zu verstehen schien, oder
war eS das blödsinnige Gedudel der Berlinischen Musik, das Publikum schien den
Verstand verloren zu haben; es war kein Klatschen, es war nicht einmal ein
Trampeln, es war eine Art unarticulirten Geheuls! Ich wurde darüber ver¬
drießlich und äußerte es meinem Nachbar, aber der machte mich darauf aufmerk¬
sam, daß ich selber meine Hände wund geschlagen hatte und daß mein Stock im
Eifer des Pochcns zerbrochen war.
'

Es ist angenehm, ein solch Vöglein mitten in dem gezierten Gefühl un¬
serer Zeit. Schade, daß man nicht zugleich Rosenknospe und Centifolie, Mäd¬
chen und große Actrice sein kann. Es wird vielleicht die Zeit kommen, wo
dieser liebe Zugvogel *) eine andere Art von Enthusiasmus erregt; wo sie die
Leidenschaften, die Gedanken fühlt, die in dem wunderbaren Reich der Töne
schlummern, wo sie sich selbst beherrscht, und so auch die Menge. Möge sie
dann nicht vergessen, das sie einmal ein liebes Mädchen war, das, ohne es zu
wissen und zu wolle», einen Augenblick Poesie in das Leben mancher gebildeten
und ungebildeten Leute geworfen hat. Man wird nicht klug, man wird nicht
groß ohne Schmerz und Enttäuschung.

Ein gottloser Poet hat einmal in einer schwachen Stunde ein gemüthliches



*) Frl. Agther aus Wien.
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[0137] wird ihr nicht gerade nachsagen, daß sie poetisch ist. Sie hat ihre Schillerfcste, in Gohlis hat Schiller sein Lied an die Frende geschrieben, sie hat ihren Rcde- vcrein, ihre Gösen, ihre Vürgergardc, aber sie ist nicht gerade poetisch. Auch die Lerchen hat man lieber gebraten. Und doch ist Leipzig gestern poetisch gewesen. Man gab die „Nachtwandlerin/' eine von den Lcierkastcnopern, die für ein italienisches Stimminstrument geschrieben sind, mit einem Text, auf den lüsternen Pariser berechnet. Man kann nicht sagen, daß diese Oper poetisch ist. Und darin trat ein liebliches Mädchen auf, die ein Poet mit fabel¬ haften Vergleichungen überhäufen würde, z. B. mit einer Rosenknospe, die eben im Begriff ist, aufzubrechen; die ich aber, da ich dergleichen brodlose Künste nicht treibe, nur ein liebes Mädchen nennen will. Und sie war so glücklich in ihrer Beschäftigung und sah die Leute so freundlich an, und sang so unbefangen, daß nach einigen Augenblicken verwunderten Schweigens die Ta- rantel in die' Hände und Füße der Zuhörer gefahren zu sein schien — glück¬ licher Weise bestand die Mehrzahl des Auditoriums aus Studenten, und die haben in dergleichen immer das richtigste Urtheil. — Eine wunderliche Nacht¬ wandlerin! sie schaute mit so klaren Augen drein, daß nur der närrische Graf sie für somnambul halten konnte; Keiner im Publikum hat es geglaubt; sie wollte den eingebildeten Burschen mir vexiren, den sie gar nicht leiden konnte; denn seht nur, wie sie sich die Hand abwischte, als er sie gedrückt hatte; wäre mir das begegnet, ich hätte mich geärgert. Auch nachher, als der Bräutigam den Verzweifelten und Wüthenden spielte, hat sie sich nicht täuschen lassen; sie warf so schelmische Seitenblicke auf ihn, als wollte sie sagen: „Habe Dich doch nicht, guter Freund, wir kennen uns besser! " — War es nun diese liebliche Naivität, die von den Dingen, um die es sich handelte. Nichts zu verstehen schien, oder war eS das blödsinnige Gedudel der Berlinischen Musik, das Publikum schien den Verstand verloren zu haben; es war kein Klatschen, es war nicht einmal ein Trampeln, es war eine Art unarticulirten Geheuls! Ich wurde darüber ver¬ drießlich und äußerte es meinem Nachbar, aber der machte mich darauf aufmerk¬ sam, daß ich selber meine Hände wund geschlagen hatte und daß mein Stock im Eifer des Pochcns zerbrochen war. ' Es ist angenehm, ein solch Vöglein mitten in dem gezierten Gefühl un¬ serer Zeit. Schade, daß man nicht zugleich Rosenknospe und Centifolie, Mäd¬ chen und große Actrice sein kann. Es wird vielleicht die Zeit kommen, wo dieser liebe Zugvogel *) eine andere Art von Enthusiasmus erregt; wo sie die Leidenschaften, die Gedanken fühlt, die in dem wunderbaren Reich der Töne schlummern, wo sie sich selbst beherrscht, und so auch die Menge. Möge sie dann nicht vergessen, das sie einmal ein liebes Mädchen war, das, ohne es zu wissen und zu wolle», einen Augenblick Poesie in das Leben mancher gebildeten und ungebildeten Leute geworfen hat. Man wird nicht klug, man wird nicht groß ohne Schmerz und Enttäuschung. Ein gottloser Poet hat einmal in einer schwachen Stunde ein gemüthliches *) Frl. Agther aus Wien.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/137>, abgerufen am 27.07.2024.