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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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V.

Die Bereine. -- Bettine vor Gericht. -- Berliner Sündhaftigkeit. -- Das Wesen und
die Identität. -- Was man in der Philosophie lernt.

Was soll man jetzt ans Berlin schreiben? da die jetzigen Wochen sich vor
den vorigen schämen müssen. Ein Paar Wochen zurück und wir waren der Mit¬
telpunkt Europa's, der neue Osten, wo der Morgen aufgehen sollte, und jetzt
sind wir -- Berlin; eine Wüste, in der es wenigstens nicht an Sand, Lange¬
weile und Kameelen fehlt. -- Geht man auf der Straße, so fragt man wohl
mit einigem (Hähnen: was ist denn los? und geht weiter, ohne auf die Autwort
zu hören. -- Indessen gedeihen wenigstens die Vereine, und ich bin, als echter
Sohn der Spree, Mitglied von 2'); ich will sie ihnen nicht alle aufzählen, vom
Gustav-Adolph-Verein/dem Verein für Statistik, für Pferdefleisch-Essen, für Lei-
chcnvcrbesscruugSanstalt, gegen die Vergiftung durch Alkohol u. f. w. bis zum
Verein der Freimüthigen mit'in Hut. Ich werde nächstens dem kunstliebenden
Publikum einen neuen Verein proponircn: süe das Cigarrenrauchen auf der Straße,
auf Actien, etwa unter dem Namen: Für-auf-der-Straße-Rauchen-Cigarren-Ab-
fassnngs-Actien-Verein. Es ist wirklich eine niederschlagende Erfahrung, wenn
man, gehüllt in milde Sandwolken, unter den grauen Linden spazieren geht, und
an nichts Arges denkt, höchstens von einer kühlen Blonden träumt, nud es gar
nicht merkt, daß man eine unschuldige Kleine im Munde hat, und plötzlich mit
dem Dvnncrworte begrüßt wird: Mann! Deine Freiheit ist ein schöner, falscher
Traum! noch waltet schirmend über Dir die Polizei! -- Das ist nicht schön!
ein solches Benehmen kränkt einen jeden Biedermann sehr.

Plötzlich verbreitet sich das Gerücht: Bcttine ist in Ketten und Bauden in
das Allerheiligste der Gerechtigkeit abgeführt! sie hat sich an einem Wohllöblichen
Magistrat vergriffen, und man kann wohl mit seinem Gotte grollen, mit seinem
Könige grollen, aber wer sich an einem Wohllöblichen Magistrat vergreift, ge¬
hört in die Hausvogtci. -- Man hofft nun, das reizende Kind werde sich per¬
sönlich vertheidigen, sie werde diese Gelegenheit benutzen, Berlin in einer feuri¬
gen Rede zur Freiheit und zur Schwebe-Religion aufzurufen; durch die Straßen,
dnrch die Gassen stürzt der Berliner, die Räume des JustiztcmpelS fassen nicht
die Zahl der Gäste, aber man wird getäuscht, es ist nichts los; warum? ich
hab' es wieder vergessen, ist alles schon dagewesen.

Ich flcmire ans der Straße, es steht ein Milchkarren da. Mich nimmt es
Wunder, ich bleibe stehen. Ein zweiter bemerkt, daß ich stehen bleibe und thut
desgleichen. Ein dritter folgt. Zehn Minuten vergehen, und der Knäuel wächst
mit dem Quadrat der Zeiten. Alles ist loyal, es sällt keinem ein zu fragen:
warum stehen nur? Berlin ist die Stadt des Vertrauens. Ich entferne mich
heimlich, spiele ein Billard, dinire, trinke Kaffee, halte eine Sieste, fahre nach
Charlottenburg, komme zurück auf den alten Fleck und -- der Knäuel steht noch
immer da.


V.

Die Bereine. — Bettine vor Gericht. — Berliner Sündhaftigkeit. — Das Wesen und
die Identität. — Was man in der Philosophie lernt.

Was soll man jetzt ans Berlin schreiben? da die jetzigen Wochen sich vor
den vorigen schämen müssen. Ein Paar Wochen zurück und wir waren der Mit¬
telpunkt Europa's, der neue Osten, wo der Morgen aufgehen sollte, und jetzt
sind wir — Berlin; eine Wüste, in der es wenigstens nicht an Sand, Lange¬
weile und Kameelen fehlt. — Geht man auf der Straße, so fragt man wohl
mit einigem (Hähnen: was ist denn los? und geht weiter, ohne auf die Autwort
zu hören. — Indessen gedeihen wenigstens die Vereine, und ich bin, als echter
Sohn der Spree, Mitglied von 2'); ich will sie ihnen nicht alle aufzählen, vom
Gustav-Adolph-Verein/dem Verein für Statistik, für Pferdefleisch-Essen, für Lei-
chcnvcrbesscruugSanstalt, gegen die Vergiftung durch Alkohol u. f. w. bis zum
Verein der Freimüthigen mit'in Hut. Ich werde nächstens dem kunstliebenden
Publikum einen neuen Verein proponircn: süe das Cigarrenrauchen auf der Straße,
auf Actien, etwa unter dem Namen: Für-auf-der-Straße-Rauchen-Cigarren-Ab-
fassnngs-Actien-Verein. Es ist wirklich eine niederschlagende Erfahrung, wenn
man, gehüllt in milde Sandwolken, unter den grauen Linden spazieren geht, und
an nichts Arges denkt, höchstens von einer kühlen Blonden träumt, nud es gar
nicht merkt, daß man eine unschuldige Kleine im Munde hat, und plötzlich mit
dem Dvnncrworte begrüßt wird: Mann! Deine Freiheit ist ein schöner, falscher
Traum! noch waltet schirmend über Dir die Polizei! — Das ist nicht schön!
ein solches Benehmen kränkt einen jeden Biedermann sehr.

Plötzlich verbreitet sich das Gerücht: Bcttine ist in Ketten und Bauden in
das Allerheiligste der Gerechtigkeit abgeführt! sie hat sich an einem Wohllöblichen
Magistrat vergriffen, und man kann wohl mit seinem Gotte grollen, mit seinem
Könige grollen, aber wer sich an einem Wohllöblichen Magistrat vergreift, ge¬
hört in die Hausvogtci. — Man hofft nun, das reizende Kind werde sich per¬
sönlich vertheidigen, sie werde diese Gelegenheit benutzen, Berlin in einer feuri¬
gen Rede zur Freiheit und zur Schwebe-Religion aufzurufen; durch die Straßen,
dnrch die Gassen stürzt der Berliner, die Räume des JustiztcmpelS fassen nicht
die Zahl der Gäste, aber man wird getäuscht, es ist nichts los; warum? ich
hab' es wieder vergessen, ist alles schon dagewesen.

Ich flcmire ans der Straße, es steht ein Milchkarren da. Mich nimmt es
Wunder, ich bleibe stehen. Ein zweiter bemerkt, daß ich stehen bleibe und thut
desgleichen. Ein dritter folgt. Zehn Minuten vergehen, und der Knäuel wächst
mit dem Quadrat der Zeiten. Alles ist loyal, es sällt keinem ein zu fragen:
warum stehen nur? Berlin ist die Stadt des Vertrauens. Ich entferne mich
heimlich, spiele ein Billard, dinire, trinke Kaffee, halte eine Sieste, fahre nach
Charlottenburg, komme zurück auf den alten Fleck und — der Knäuel steht noch
immer da.


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[0132] V. Die Bereine. — Bettine vor Gericht. — Berliner Sündhaftigkeit. — Das Wesen und die Identität. — Was man in der Philosophie lernt. Was soll man jetzt ans Berlin schreiben? da die jetzigen Wochen sich vor den vorigen schämen müssen. Ein Paar Wochen zurück und wir waren der Mit¬ telpunkt Europa's, der neue Osten, wo der Morgen aufgehen sollte, und jetzt sind wir — Berlin; eine Wüste, in der es wenigstens nicht an Sand, Lange¬ weile und Kameelen fehlt. — Geht man auf der Straße, so fragt man wohl mit einigem (Hähnen: was ist denn los? und geht weiter, ohne auf die Autwort zu hören. — Indessen gedeihen wenigstens die Vereine, und ich bin, als echter Sohn der Spree, Mitglied von 2'); ich will sie ihnen nicht alle aufzählen, vom Gustav-Adolph-Verein/dem Verein für Statistik, für Pferdefleisch-Essen, für Lei- chcnvcrbesscruugSanstalt, gegen die Vergiftung durch Alkohol u. f. w. bis zum Verein der Freimüthigen mit'in Hut. Ich werde nächstens dem kunstliebenden Publikum einen neuen Verein proponircn: süe das Cigarrenrauchen auf der Straße, auf Actien, etwa unter dem Namen: Für-auf-der-Straße-Rauchen-Cigarren-Ab- fassnngs-Actien-Verein. Es ist wirklich eine niederschlagende Erfahrung, wenn man, gehüllt in milde Sandwolken, unter den grauen Linden spazieren geht, und an nichts Arges denkt, höchstens von einer kühlen Blonden träumt, nud es gar nicht merkt, daß man eine unschuldige Kleine im Munde hat, und plötzlich mit dem Dvnncrworte begrüßt wird: Mann! Deine Freiheit ist ein schöner, falscher Traum! noch waltet schirmend über Dir die Polizei! — Das ist nicht schön! ein solches Benehmen kränkt einen jeden Biedermann sehr. Plötzlich verbreitet sich das Gerücht: Bcttine ist in Ketten und Bauden in das Allerheiligste der Gerechtigkeit abgeführt! sie hat sich an einem Wohllöblichen Magistrat vergriffen, und man kann wohl mit seinem Gotte grollen, mit seinem Könige grollen, aber wer sich an einem Wohllöblichen Magistrat vergreift, ge¬ hört in die Hausvogtci. — Man hofft nun, das reizende Kind werde sich per¬ sönlich vertheidigen, sie werde diese Gelegenheit benutzen, Berlin in einer feuri¬ gen Rede zur Freiheit und zur Schwebe-Religion aufzurufen; durch die Straßen, dnrch die Gassen stürzt der Berliner, die Räume des JustiztcmpelS fassen nicht die Zahl der Gäste, aber man wird getäuscht, es ist nichts los; warum? ich hab' es wieder vergessen, ist alles schon dagewesen. Ich flcmire ans der Straße, es steht ein Milchkarren da. Mich nimmt es Wunder, ich bleibe stehen. Ein zweiter bemerkt, daß ich stehen bleibe und thut desgleichen. Ein dritter folgt. Zehn Minuten vergehen, und der Knäuel wächst mit dem Quadrat der Zeiten. Alles ist loyal, es sällt keinem ein zu fragen: warum stehen nur? Berlin ist die Stadt des Vertrauens. Ich entferne mich heimlich, spiele ein Billard, dinire, trinke Kaffee, halte eine Sieste, fahre nach Charlottenburg, komme zurück auf den alten Fleck und — der Knäuel steht noch immer da.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/132>, abgerufen am 01.09.2024.