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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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an's Siechcnlager gekettet, hat ihre früheren Lebensbezüge nicht aus den Augen
verloren. Ihr trauriger Dienst -- traurig, weil ihm keine Begeisterung
für Menschenwohl, kein heiliger Opfermut!) zu Grunde liegt -- fordert Ab¬
wechslung, fordert Erholung. Sie sucht Liebe, uicht in ihrem Wirkungs¬
kreise, sondern außerhalb. In der That sehen wir, wie jede Krankenwär¬
terin, und sei sie noch so vorgerückt im Alter, um einen Liebhaber wirbt,
der sich uicht lauge suchen läßt. So übernimmt die Wärterinn, deren Sold
ihre eigenen Bedürfnisse nicht deckt, im Spital noch die Sorge für einen
Dritten. Dies ist für die Krankenpflege ein Umstand von Schwerstein Ge¬
wichte, hier liegt der Knotenpunkt mannigfacher Erpressungen, die Quelle
empörender Lieblosigkeiten.

Die Wärterin, die von dem Kranken oder seinen Angehörigen, Frem¬
den oder Bekannten nicht mit Geschenken bedachr wird -- die, wir brauchen
es kaum zu erwähnen, streng verboten sind -- vernachläßigt ihn nicht nur,
sondern geht sogar so weit, den Armen auf eine berechnete Weise zu quälen
und zu reizen. Sucht nicht der Kranke sich durch Beschwerdeführung über
diese empörende Folterung zu retten und zu wahren?

Nein. So auffallend diese Antwort klingt, so ist sie doch gegründet,
und eine hundertfache Erfahrung besiegelt sie. Der Kranke wagt nämlich
nicht gegen die Person aufzutreten, in deren Hände er gegeben ist. Seine
körperlichen Leiden berauben ihn in der Regel der Energie, die er etwa be¬
sitzt; er ist ein Schwächling, an einem fremden Orte, in einer fremden Um¬
gebung -- woher soll ihm Kraft zu einem entschiedenen Schritte kommen?
Und wenn er sie hat, so führt sie nur zu seiner Beschämung, zur uoch tie¬
feren Kränkung. Wagt nämlich ein Kranker die lieblose Wärterin anzu¬
klagen, so ruft sie mit schamloser Frechheit die andern Kranken zu Zeugen
ihrer Unschuld auf, und diese sind so eingeschüchtert, daß sie gehorsam dem
Rufe der Wärterin entsprechen. Entdeckt der Arzt diese verwerflichen, em¬
pörenden Umtriebe, so wird zwar die Wärterin ans sein Andringen entlassen
-- eigentlich sollte sie der Behörde zur Bestrafung überantwortet werden --
allein sein Erstaunen ist nicht geringe, wenn er bereits nach Ablauf einiger
Wochen dieselbe eben so ruchlose als gefährliche Person auf einer andern
entfernteren Abtheilung der großen Krankenstatt angestellt findet, angestellt
vom Obere'rankenwärter, der sich wohl hütet, ihre schlechte Conduite dem
Primarärzte der Abtheilung, dem die Person ganz unbekannt ist, zu enthül¬
len. Wird endlich eine pflichtvergessene Wärterin in Folge eines schweren,.
Aussehen erregenden Vergehens "für immer" entlassen, so tritt, da keine
strenge Charakterprobe bei der Ausnahme stattfindet, an ihre Stelle kein


an's Siechcnlager gekettet, hat ihre früheren Lebensbezüge nicht aus den Augen
verloren. Ihr trauriger Dienst — traurig, weil ihm keine Begeisterung
für Menschenwohl, kein heiliger Opfermut!) zu Grunde liegt — fordert Ab¬
wechslung, fordert Erholung. Sie sucht Liebe, uicht in ihrem Wirkungs¬
kreise, sondern außerhalb. In der That sehen wir, wie jede Krankenwär¬
terin, und sei sie noch so vorgerückt im Alter, um einen Liebhaber wirbt,
der sich uicht lauge suchen läßt. So übernimmt die Wärterinn, deren Sold
ihre eigenen Bedürfnisse nicht deckt, im Spital noch die Sorge für einen
Dritten. Dies ist für die Krankenpflege ein Umstand von Schwerstein Ge¬
wichte, hier liegt der Knotenpunkt mannigfacher Erpressungen, die Quelle
empörender Lieblosigkeiten.

Die Wärterin, die von dem Kranken oder seinen Angehörigen, Frem¬
den oder Bekannten nicht mit Geschenken bedachr wird — die, wir brauchen
es kaum zu erwähnen, streng verboten sind — vernachläßigt ihn nicht nur,
sondern geht sogar so weit, den Armen auf eine berechnete Weise zu quälen
und zu reizen. Sucht nicht der Kranke sich durch Beschwerdeführung über
diese empörende Folterung zu retten und zu wahren?

Nein. So auffallend diese Antwort klingt, so ist sie doch gegründet,
und eine hundertfache Erfahrung besiegelt sie. Der Kranke wagt nämlich
nicht gegen die Person aufzutreten, in deren Hände er gegeben ist. Seine
körperlichen Leiden berauben ihn in der Regel der Energie, die er etwa be¬
sitzt; er ist ein Schwächling, an einem fremden Orte, in einer fremden Um¬
gebung — woher soll ihm Kraft zu einem entschiedenen Schritte kommen?
Und wenn er sie hat, so führt sie nur zu seiner Beschämung, zur uoch tie¬
feren Kränkung. Wagt nämlich ein Kranker die lieblose Wärterin anzu¬
klagen, so ruft sie mit schamloser Frechheit die andern Kranken zu Zeugen
ihrer Unschuld auf, und diese sind so eingeschüchtert, daß sie gehorsam dem
Rufe der Wärterin entsprechen. Entdeckt der Arzt diese verwerflichen, em¬
pörenden Umtriebe, so wird zwar die Wärterin ans sein Andringen entlassen
— eigentlich sollte sie der Behörde zur Bestrafung überantwortet werden —
allein sein Erstaunen ist nicht geringe, wenn er bereits nach Ablauf einiger
Wochen dieselbe eben so ruchlose als gefährliche Person auf einer andern
entfernteren Abtheilung der großen Krankenstatt angestellt findet, angestellt
vom Obere'rankenwärter, der sich wohl hütet, ihre schlechte Conduite dem
Primarärzte der Abtheilung, dem die Person ganz unbekannt ist, zu enthül¬
len. Wird endlich eine pflichtvergessene Wärterin in Folge eines schweren,.
Aussehen erregenden Vergehens „für immer" entlassen, so tritt, da keine
strenge Charakterprobe bei der Ausnahme stattfindet, an ihre Stelle kein


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[0563] an's Siechcnlager gekettet, hat ihre früheren Lebensbezüge nicht aus den Augen verloren. Ihr trauriger Dienst — traurig, weil ihm keine Begeisterung für Menschenwohl, kein heiliger Opfermut!) zu Grunde liegt — fordert Ab¬ wechslung, fordert Erholung. Sie sucht Liebe, uicht in ihrem Wirkungs¬ kreise, sondern außerhalb. In der That sehen wir, wie jede Krankenwär¬ terin, und sei sie noch so vorgerückt im Alter, um einen Liebhaber wirbt, der sich uicht lauge suchen läßt. So übernimmt die Wärterinn, deren Sold ihre eigenen Bedürfnisse nicht deckt, im Spital noch die Sorge für einen Dritten. Dies ist für die Krankenpflege ein Umstand von Schwerstein Ge¬ wichte, hier liegt der Knotenpunkt mannigfacher Erpressungen, die Quelle empörender Lieblosigkeiten. Die Wärterin, die von dem Kranken oder seinen Angehörigen, Frem¬ den oder Bekannten nicht mit Geschenken bedachr wird — die, wir brauchen es kaum zu erwähnen, streng verboten sind — vernachläßigt ihn nicht nur, sondern geht sogar so weit, den Armen auf eine berechnete Weise zu quälen und zu reizen. Sucht nicht der Kranke sich durch Beschwerdeführung über diese empörende Folterung zu retten und zu wahren? Nein. So auffallend diese Antwort klingt, so ist sie doch gegründet, und eine hundertfache Erfahrung besiegelt sie. Der Kranke wagt nämlich nicht gegen die Person aufzutreten, in deren Hände er gegeben ist. Seine körperlichen Leiden berauben ihn in der Regel der Energie, die er etwa be¬ sitzt; er ist ein Schwächling, an einem fremden Orte, in einer fremden Um¬ gebung — woher soll ihm Kraft zu einem entschiedenen Schritte kommen? Und wenn er sie hat, so führt sie nur zu seiner Beschämung, zur uoch tie¬ feren Kränkung. Wagt nämlich ein Kranker die lieblose Wärterin anzu¬ klagen, so ruft sie mit schamloser Frechheit die andern Kranken zu Zeugen ihrer Unschuld auf, und diese sind so eingeschüchtert, daß sie gehorsam dem Rufe der Wärterin entsprechen. Entdeckt der Arzt diese verwerflichen, em¬ pörenden Umtriebe, so wird zwar die Wärterin ans sein Andringen entlassen — eigentlich sollte sie der Behörde zur Bestrafung überantwortet werden — allein sein Erstaunen ist nicht geringe, wenn er bereits nach Ablauf einiger Wochen dieselbe eben so ruchlose als gefährliche Person auf einer andern entfernteren Abtheilung der großen Krankenstatt angestellt findet, angestellt vom Obere'rankenwärter, der sich wohl hütet, ihre schlechte Conduite dem Primarärzte der Abtheilung, dem die Person ganz unbekannt ist, zu enthül¬ len. Wird endlich eine pflichtvergessene Wärterin in Folge eines schweren,. Aussehen erregenden Vergehens „für immer" entlassen, so tritt, da keine strenge Charakterprobe bei der Ausnahme stattfindet, an ihre Stelle kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/563>, abgerufen am 22.07.2024.