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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Somnambulismus und sozialem Weltschmerz gesättigte Hamlet spukt wie
ein bleiches Gespenst in der Hälfte der deutschen und französischen Belletri¬
stik. -- "Die Welt ist aus deu Fugen! Schmach und Gram, daß ich zur
Welt, sie einzurichten kam!" Und so siecht die Jugend an dieser unausge¬
setzten Selbstbeslecknug und wähnt sich groß, nur weil sie gelernt hat, daß
nicht alles so ist, wie es sein sollte ! -- Die kräftigern, ich möchte sagen
burschikosen Geister dagegen lehnen sieh an die dämonischen Figuren Sha¬
kespeare's; Judith ist eine romantistrte Kleopatra, die Buhlerin mit Mord¬
sucht und Weltschmerz, Holofernes ein Richard III., der den Feuerbach stu-
dirt hat. Mir wird unheimlich in dieser trüben Mischung entgegengesetzter
Elemente; gebt uns die lüsterne Hetäre, das königliche Weib voll Frechheit
und Blutdurst, aber macht die Venus nicht zur Libitina! bringt nicht die
Religion hinein! Es ist wahr, daß man eine innere Verwandtschaft her-
ausfinden kann, aber die Poesie wäre die schlimmste Gabe der Götter, wenn
sie es sich zur Aufgabe setzte, die übelriechenden Elemente der Verwesung,
welche die Menschen mit Erde überschütten, wieder an die freie Luft heran¬
zuziehen. Sie scheint es sich in der That jetzt als Problem gestellt zu ha¬
ben, den Würmern zu folgen in ihrer unterirdischen. Thätigkeit, wenn sie
an dem fanlenden Leichnam nagen, dein Arzt in sein Laboratorium oder
gar in die geheimen Gemächer eines Bordells -- oder -- -- "doch begehre
der Mensch nimmer zu schauen, was die Götter gnädig bedecken mit Nacht
und Grauen!"

Dieses fieberhafte Zucken der Wollust, wie es nun nicht allein in dem
Blut, sondern in dem Hirn der Poeten kocht, wurde dadurch etwas gemä¬
ßigt, daß in neuerer Zeit die dramatische Kunst wieder eine Richtung auf
die Bühne nahm. Die Tragödie sollte ihrer ursprünglichen Bedeutung wie¬
dergegeben werden, die Menge unmittelbar hinzureißen. Ganz richtig sagt
Hebbel: "Eine Dichtung, die sich für eine dramatische gibt, muß darstellbar
sein, weil, was der Künstler nicht darzustellen vermag, von dem Dichter
selbst nicht dargestellt wurde, sondern Embryo und Gedankeuschemen blieb."
Um so mehr mußte es befremden, als Hebbel in seinein neuesten Werk wie¬
der der Bühne entsagte und sich in eiuer allegorischen Vorrede darüber er¬
klärte: er habe dem Bestreben einer unmittelbaren Wirksamkeit so viel von
den edleren Schätzen seines Geistes opfern müssen, daß er endlich ganz
waffenlos in das Allerheiligste der Poesie einkehren müßte, wenn er nicht
seine Opfer zurücknähme. --

Der "Diamant," Hebbel's neuestes Werk, ist also nicht mit Rücksicht
auf die Bühne geschrieben, und es ist denn auch eine wunderliche Compo-


GrmMm II. 1S47. ß7

Somnambulismus und sozialem Weltschmerz gesättigte Hamlet spukt wie
ein bleiches Gespenst in der Hälfte der deutschen und französischen Belletri¬
stik. — „Die Welt ist aus deu Fugen! Schmach und Gram, daß ich zur
Welt, sie einzurichten kam!" Und so siecht die Jugend an dieser unausge¬
setzten Selbstbeslecknug und wähnt sich groß, nur weil sie gelernt hat, daß
nicht alles so ist, wie es sein sollte ! — Die kräftigern, ich möchte sagen
burschikosen Geister dagegen lehnen sieh an die dämonischen Figuren Sha¬
kespeare's; Judith ist eine romantistrte Kleopatra, die Buhlerin mit Mord¬
sucht und Weltschmerz, Holofernes ein Richard III., der den Feuerbach stu-
dirt hat. Mir wird unheimlich in dieser trüben Mischung entgegengesetzter
Elemente; gebt uns die lüsterne Hetäre, das königliche Weib voll Frechheit
und Blutdurst, aber macht die Venus nicht zur Libitina! bringt nicht die
Religion hinein! Es ist wahr, daß man eine innere Verwandtschaft her-
ausfinden kann, aber die Poesie wäre die schlimmste Gabe der Götter, wenn
sie es sich zur Aufgabe setzte, die übelriechenden Elemente der Verwesung,
welche die Menschen mit Erde überschütten, wieder an die freie Luft heran¬
zuziehen. Sie scheint es sich in der That jetzt als Problem gestellt zu ha¬
ben, den Würmern zu folgen in ihrer unterirdischen. Thätigkeit, wenn sie
an dem fanlenden Leichnam nagen, dein Arzt in sein Laboratorium oder
gar in die geheimen Gemächer eines Bordells — oder — — „doch begehre
der Mensch nimmer zu schauen, was die Götter gnädig bedecken mit Nacht
und Grauen!"

Dieses fieberhafte Zucken der Wollust, wie es nun nicht allein in dem
Blut, sondern in dem Hirn der Poeten kocht, wurde dadurch etwas gemä¬
ßigt, daß in neuerer Zeit die dramatische Kunst wieder eine Richtung auf
die Bühne nahm. Die Tragödie sollte ihrer ursprünglichen Bedeutung wie¬
dergegeben werden, die Menge unmittelbar hinzureißen. Ganz richtig sagt
Hebbel: „Eine Dichtung, die sich für eine dramatische gibt, muß darstellbar
sein, weil, was der Künstler nicht darzustellen vermag, von dem Dichter
selbst nicht dargestellt wurde, sondern Embryo und Gedankeuschemen blieb."
Um so mehr mußte es befremden, als Hebbel in seinein neuesten Werk wie¬
der der Bühne entsagte und sich in eiuer allegorischen Vorrede darüber er¬
klärte: er habe dem Bestreben einer unmittelbaren Wirksamkeit so viel von
den edleren Schätzen seines Geistes opfern müssen, daß er endlich ganz
waffenlos in das Allerheiligste der Poesie einkehren müßte, wenn er nicht
seine Opfer zurücknähme. —

Der „Diamant," Hebbel's neuestes Werk, ist also nicht mit Rücksicht
auf die Bühne geschrieben, und es ist denn auch eine wunderliche Compo-


GrmMm II. 1S47. ß7
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[0517] Somnambulismus und sozialem Weltschmerz gesättigte Hamlet spukt wie ein bleiches Gespenst in der Hälfte der deutschen und französischen Belletri¬ stik. — „Die Welt ist aus deu Fugen! Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichten kam!" Und so siecht die Jugend an dieser unausge¬ setzten Selbstbeslecknug und wähnt sich groß, nur weil sie gelernt hat, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte ! — Die kräftigern, ich möchte sagen burschikosen Geister dagegen lehnen sieh an die dämonischen Figuren Sha¬ kespeare's; Judith ist eine romantistrte Kleopatra, die Buhlerin mit Mord¬ sucht und Weltschmerz, Holofernes ein Richard III., der den Feuerbach stu- dirt hat. Mir wird unheimlich in dieser trüben Mischung entgegengesetzter Elemente; gebt uns die lüsterne Hetäre, das königliche Weib voll Frechheit und Blutdurst, aber macht die Venus nicht zur Libitina! bringt nicht die Religion hinein! Es ist wahr, daß man eine innere Verwandtschaft her- ausfinden kann, aber die Poesie wäre die schlimmste Gabe der Götter, wenn sie es sich zur Aufgabe setzte, die übelriechenden Elemente der Verwesung, welche die Menschen mit Erde überschütten, wieder an die freie Luft heran¬ zuziehen. Sie scheint es sich in der That jetzt als Problem gestellt zu ha¬ ben, den Würmern zu folgen in ihrer unterirdischen. Thätigkeit, wenn sie an dem fanlenden Leichnam nagen, dein Arzt in sein Laboratorium oder gar in die geheimen Gemächer eines Bordells — oder — — „doch begehre der Mensch nimmer zu schauen, was die Götter gnädig bedecken mit Nacht und Grauen!" Dieses fieberhafte Zucken der Wollust, wie es nun nicht allein in dem Blut, sondern in dem Hirn der Poeten kocht, wurde dadurch etwas gemä¬ ßigt, daß in neuerer Zeit die dramatische Kunst wieder eine Richtung auf die Bühne nahm. Die Tragödie sollte ihrer ursprünglichen Bedeutung wie¬ dergegeben werden, die Menge unmittelbar hinzureißen. Ganz richtig sagt Hebbel: „Eine Dichtung, die sich für eine dramatische gibt, muß darstellbar sein, weil, was der Künstler nicht darzustellen vermag, von dem Dichter selbst nicht dargestellt wurde, sondern Embryo und Gedankeuschemen blieb." Um so mehr mußte es befremden, als Hebbel in seinein neuesten Werk wie¬ der der Bühne entsagte und sich in eiuer allegorischen Vorrede darüber er¬ klärte: er habe dem Bestreben einer unmittelbaren Wirksamkeit so viel von den edleren Schätzen seines Geistes opfern müssen, daß er endlich ganz waffenlos in das Allerheiligste der Poesie einkehren müßte, wenn er nicht seine Opfer zurücknähme. — Der „Diamant," Hebbel's neuestes Werk, ist also nicht mit Rücksicht auf die Bühne geschrieben, und es ist denn auch eine wunderliche Compo- GrmMm II. 1S47. ß7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/517>, abgerufen am 22.07.2024.