Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.steht, so lange es überhaupt denken und fühlen kann. Dagegen lehnt sich Hebbel's drittes Stück MariaMagdale n a ist offenbar das einheitlichste steht, so lange es überhaupt denken und fühlen kann. Dagegen lehnt sich Hebbel's drittes Stück MariaMagdale n a ist offenbar das einheitlichste <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/272414"/> <p xml:id="ID_1661" prev="#ID_1660"> steht, so lange es überhaupt denken und fühlen kann. Dagegen lehnt sich<lb/> nun freilich jener Teufelsspuk und jene Judenverfolgung auf, die in dem<lb/> Stück vorkommen, und man wird wohl sagen müssen, es sei ein Jahrhundert<lb/> gemeint, in welchem die Sittlichkeit noch ein äußerlich Gegebenes war, nicht<lb/> ein innerlich Vermitteltes, in welcher die Leidenschaft um so brausender ans<lb/> dem Quelle des unheiligen Gemüths hervorschäumte, je enger nud fester der<lb/> künstliche Wall der Autorität sie einschränkte. Das kann also unser Zeitalter<lb/> uicht sein, während die Art der Leidenschaft, wie sie Golo erfaßte, zu jeder<lb/> Zeit erscheinen kann. Ich begehre eines Andern Weib, sie widersteht mir,<lb/> ich suche sie zu verderben. Dieser Conflict ist, trotz des äußern Apparats,<lb/> ein zufälliger, subjectiver; und es bedarf weder eine Judenverfolgung noch<lb/> eine Geisterbeschwörung, um ihn zu motiviren. Soll nun etwa das sittliche<lb/> Gesetz, an welchem Golo untergeht, also das siebente Gebot, als ein aufzu¬<lb/> hebendes dargestellt werden, wie es Hebbel in Goethe's Wahlverwandtschaf¬<lb/> ten gewünscht hat? wir finden darüber keine Andeutung; im Gegentheil ist<lb/> die Ehe Siegfried's und Genoveva's eine wahrhaft sittliche, und Golo bleibt<lb/> ein Verbrecher vor jedem Richterstuhl.</p><lb/> <p xml:id="ID_1662" next="#ID_1663"> Hebbel's drittes Stück MariaMagdale n a ist offenbar das einheitlichste<lb/> Drama, was er geliefert hat, vielleicht sein Maximum. Es hat schon äußer¬<lb/> lich den großen Vorzug, daß es uicht in einer poetischen, d. h. eingebildeten,<lb/> unklaren und unbestimmten Zeit spielt, sondern in der Gegenwart, in der<lb/> Beschränktheit des kleinbürgerlichen Familienlebens, das der Dichter kennt<lb/> und darum auch darzustellen vermag. Hier scheint uun allerdings die Ten¬<lb/> denz vorzuwalten, diese verhärteten Ehrbegriffe als das Abscheuliche darzu¬<lb/> stellen, an dem das frei Natürliche widerrechtlich zu Grunde geht. Es scheint<lb/> aber auch nur so, denn das, woran jene beschränkte Sittlichkeit Anstoß nimmt,<lb/> ist eben das Widersinnige, das Unnatürliche, diese bodenlose Willkür der<lb/> Stimmung, der Reflexion, die der strengen Zucht bedarf, um gebrochen, nö-<lb/> thigenfalls ausgerottet zu werden. Maria Magdalena glaubt von ihrem<lb/> Geliebten vernachlässigt zu sein; im Aerger darüber gibt sie ihre Jungfräu¬<lb/> lichkeit einem Andern Preis, den sie nicht liebt, ja den sie seiner ganzen An¬<lb/> lage nach verachten muß. Wird dieser Act etwa dadurch sittlicher, daß sie<lb/> während desselben eiskalt bleibt? daß sie darauf rechnet, jener Andere werde<lb/> sie heirathen? daß sie endlich, damit ihr Vater sich nicht wegen ihrer Schande<lb/> den Hals abschneiden darf, in einen Brunnen springt! Was ist das für eine<lb/> abscheuliche Welt, in die wir versetzt werden! Der Vater, ein polternder Al¬<lb/> ter im modernen Gewände, erlebt in ein Paar Tagen den Schmerz , daß<lb/> sein Sohn als Dieb angeschuldigt wird, daß seine Frau darüber der Schlag</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0515]
steht, so lange es überhaupt denken und fühlen kann. Dagegen lehnt sich
nun freilich jener Teufelsspuk und jene Judenverfolgung auf, die in dem
Stück vorkommen, und man wird wohl sagen müssen, es sei ein Jahrhundert
gemeint, in welchem die Sittlichkeit noch ein äußerlich Gegebenes war, nicht
ein innerlich Vermitteltes, in welcher die Leidenschaft um so brausender ans
dem Quelle des unheiligen Gemüths hervorschäumte, je enger nud fester der
künstliche Wall der Autorität sie einschränkte. Das kann also unser Zeitalter
uicht sein, während die Art der Leidenschaft, wie sie Golo erfaßte, zu jeder
Zeit erscheinen kann. Ich begehre eines Andern Weib, sie widersteht mir,
ich suche sie zu verderben. Dieser Conflict ist, trotz des äußern Apparats,
ein zufälliger, subjectiver; und es bedarf weder eine Judenverfolgung noch
eine Geisterbeschwörung, um ihn zu motiviren. Soll nun etwa das sittliche
Gesetz, an welchem Golo untergeht, also das siebente Gebot, als ein aufzu¬
hebendes dargestellt werden, wie es Hebbel in Goethe's Wahlverwandtschaf¬
ten gewünscht hat? wir finden darüber keine Andeutung; im Gegentheil ist
die Ehe Siegfried's und Genoveva's eine wahrhaft sittliche, und Golo bleibt
ein Verbrecher vor jedem Richterstuhl.
Hebbel's drittes Stück MariaMagdale n a ist offenbar das einheitlichste
Drama, was er geliefert hat, vielleicht sein Maximum. Es hat schon äußer¬
lich den großen Vorzug, daß es uicht in einer poetischen, d. h. eingebildeten,
unklaren und unbestimmten Zeit spielt, sondern in der Gegenwart, in der
Beschränktheit des kleinbürgerlichen Familienlebens, das der Dichter kennt
und darum auch darzustellen vermag. Hier scheint uun allerdings die Ten¬
denz vorzuwalten, diese verhärteten Ehrbegriffe als das Abscheuliche darzu¬
stellen, an dem das frei Natürliche widerrechtlich zu Grunde geht. Es scheint
aber auch nur so, denn das, woran jene beschränkte Sittlichkeit Anstoß nimmt,
ist eben das Widersinnige, das Unnatürliche, diese bodenlose Willkür der
Stimmung, der Reflexion, die der strengen Zucht bedarf, um gebrochen, nö-
thigenfalls ausgerottet zu werden. Maria Magdalena glaubt von ihrem
Geliebten vernachlässigt zu sein; im Aerger darüber gibt sie ihre Jungfräu¬
lichkeit einem Andern Preis, den sie nicht liebt, ja den sie seiner ganzen An¬
lage nach verachten muß. Wird dieser Act etwa dadurch sittlicher, daß sie
während desselben eiskalt bleibt? daß sie darauf rechnet, jener Andere werde
sie heirathen? daß sie endlich, damit ihr Vater sich nicht wegen ihrer Schande
den Hals abschneiden darf, in einen Brunnen springt! Was ist das für eine
abscheuliche Welt, in die wir versetzt werden! Der Vater, ein polternder Al¬
ter im modernen Gewände, erlebt in ein Paar Tagen den Schmerz , daß
sein Sohn als Dieb angeschuldigt wird, daß seine Frau darüber der Schlag
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |