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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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ich weiß wohl, daß jede Leidenschaft eine Krankheit ist, aber es gibt eine
gesunde Krankheit, die den Körper allerdings unter Lebensgefahr wieder her¬
stellt, und ein unnatürliches Siechthum, dem Kraftmenschen eben so gut un¬
terliegen können als Schwächliche. Ich erinnere an Klinger's Stücke aus
der Sturm- und Drangperiode, z. B. die Zwillinge, an Grabbe und ähn¬
liche Grastgenies; die Helden haben alle die Tobsucht, sie rasen, fluchen,
lärmen, morden, aber das alles ist ihnen nicht natürlich, sie sind uur be¬
trunken; der Rausch jedoch gehört nur in die Posse, nicht in die Tragödie.

Und nur folge mau den Sprüngen, in welchen Hebbel einige seiner
Hauptcharaktere entwickelt, und sage, ob das Natur oder Rausch ist. Der
ausgeführteste Starkgeist ist sein Golo in der Genoveva. Noch ein halber
Knabe, nur gewohnt an Pferde, Lanzen und Schwerter, wird er von seinem
Herrn, der in einen Kreuzzug zieht, zur Hut seiner Gemahlin zurückgelassen.
Golo hat diese bisher immer als eine Heilige betrachtet, jetzt sieht er zum
ersten Male in der Abschiedsscene, daß sie ein Weib ist und lieben kann;
seine Begierde wird entzündet, aber das Gebot der Tugend spricht noch in
ihm; um diese zu erhalten, gebraucht er ein sonderbares Mittel: er klettert
auf eine schwindelnde Höhe, wo es unmöglich scheint, das Gleichgewicht zu
behalten , und erklärt, wenn er hier nicht den Hals bräche, lege er es so
ans, daß Gott ihn zu einem Schurken machen wolle. Ein ander Mal fordert
er Genoveva auf, ihm ein Wort zu sagen, so wolle er sich selbst erstechen.
Genoveva hält ihn zurück. Nun, ruft er, bist du mein! Und ob der Hei¬
land selbst sich stellen wollte zwischen dich und mich, zu seinen sieben Wun¬
den geb' ich ihm die achte! -- Durch eine böse Hexe wird er verleitet, sie
durch Schmach und Noth zu versuchen; er zeiht sie des Ehebruchs, wirft sie
in's Gefängniß, und tritt hier vor sie, einen Brief an ihren Gemahl in der
Hand, worin er sein Verbrechen bekennt, und einen Giftbecher; laß mich
diesen Giftbecher trinken, ruft er ihr zu, so ist das Papier dein. Sie schau¬
dert, gießt aber das Gift aus; darauf läßt er die Henker hereinkommen,
die sie ermorden sollen. >--Das sind nur einzelne Beispiele, in ähnlichen
Sprüngen aber geht er stets aus einem Extrem in das andere. Es ist sehr
richtig, daß die Zeit der erwachenden Pubertät für solche fieberhaften Ein¬
fälle mehr als irgend eine andere geeignet ist; aber eben darum gehört sie
nicht in's Drama, weil sie mit der Sittlichkeit nichts zu thun hat. Der
Dichter hat das Recht, die Leidenschaft in ihrer fürchterlichsten Gewalt dar¬
zustellen, aber er muß eine innere Nothwendigkeit zeigen; so sehr wir das
Hinreißende, das Dämonische dieses Rausches bewundern, den der Dichter
mit seinem Helden theilt, so fühlt man sich doch bei jedem neuen Zug ge-


ich weiß wohl, daß jede Leidenschaft eine Krankheit ist, aber es gibt eine
gesunde Krankheit, die den Körper allerdings unter Lebensgefahr wieder her¬
stellt, und ein unnatürliches Siechthum, dem Kraftmenschen eben so gut un¬
terliegen können als Schwächliche. Ich erinnere an Klinger's Stücke aus
der Sturm- und Drangperiode, z. B. die Zwillinge, an Grabbe und ähn¬
liche Grastgenies; die Helden haben alle die Tobsucht, sie rasen, fluchen,
lärmen, morden, aber das alles ist ihnen nicht natürlich, sie sind uur be¬
trunken; der Rausch jedoch gehört nur in die Posse, nicht in die Tragödie.

Und nur folge mau den Sprüngen, in welchen Hebbel einige seiner
Hauptcharaktere entwickelt, und sage, ob das Natur oder Rausch ist. Der
ausgeführteste Starkgeist ist sein Golo in der Genoveva. Noch ein halber
Knabe, nur gewohnt an Pferde, Lanzen und Schwerter, wird er von seinem
Herrn, der in einen Kreuzzug zieht, zur Hut seiner Gemahlin zurückgelassen.
Golo hat diese bisher immer als eine Heilige betrachtet, jetzt sieht er zum
ersten Male in der Abschiedsscene, daß sie ein Weib ist und lieben kann;
seine Begierde wird entzündet, aber das Gebot der Tugend spricht noch in
ihm; um diese zu erhalten, gebraucht er ein sonderbares Mittel: er klettert
auf eine schwindelnde Höhe, wo es unmöglich scheint, das Gleichgewicht zu
behalten , und erklärt, wenn er hier nicht den Hals bräche, lege er es so
ans, daß Gott ihn zu einem Schurken machen wolle. Ein ander Mal fordert
er Genoveva auf, ihm ein Wort zu sagen, so wolle er sich selbst erstechen.
Genoveva hält ihn zurück. Nun, ruft er, bist du mein! Und ob der Hei¬
land selbst sich stellen wollte zwischen dich und mich, zu seinen sieben Wun¬
den geb' ich ihm die achte! — Durch eine böse Hexe wird er verleitet, sie
durch Schmach und Noth zu versuchen; er zeiht sie des Ehebruchs, wirft sie
in's Gefängniß, und tritt hier vor sie, einen Brief an ihren Gemahl in der
Hand, worin er sein Verbrechen bekennt, und einen Giftbecher; laß mich
diesen Giftbecher trinken, ruft er ihr zu, so ist das Papier dein. Sie schau¬
dert, gießt aber das Gift aus; darauf läßt er die Henker hereinkommen,
die sie ermorden sollen. >--Das sind nur einzelne Beispiele, in ähnlichen
Sprüngen aber geht er stets aus einem Extrem in das andere. Es ist sehr
richtig, daß die Zeit der erwachenden Pubertät für solche fieberhaften Ein¬
fälle mehr als irgend eine andere geeignet ist; aber eben darum gehört sie
nicht in's Drama, weil sie mit der Sittlichkeit nichts zu thun hat. Der
Dichter hat das Recht, die Leidenschaft in ihrer fürchterlichsten Gewalt dar¬
zustellen, aber er muß eine innere Nothwendigkeit zeigen; so sehr wir das
Hinreißende, das Dämonische dieses Rausches bewundern, den der Dichter
mit seinem Helden theilt, so fühlt man sich doch bei jedem neuen Zug ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/512>, abgerufen am 22.07.2024.