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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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"Die Weiber werden von dem Unverständlichen oder Unverstandenen am
Tiefsten ergriffen, und leben und bewegen sich darum so sicher und froh in
der Welt, weil sie ihre Gefühle und Gedanken ganz unbehindert hineinlegen
können und unbeschränkt darinnen verbreiten." "Die Natur wird kaum
wahrer empfunden als in den Weibern. Sie leben lebendig, fühlen die
traumähnlichsten, geheimnißvollsten Zustände klar und deutlich. Sie denken
das Leben weniger als sie es fühlen, und meist ohne Phantasie, versenken
sie sich leicht in die Zauber der Natur, weil sie Zeitlebens mehr Natur sind,
darstellen und bleiben als in beständigem, jungfräulichen, mütterlichem, bis
zur Verkennung verwandtem Verkehr mit ihr in allen entzückenden und
schwersten Stunden des Lebens, der Geburt und des Todes." Wie an¬
schaulich werden die Mysterien des Muttergefühls dargestellt! Bei den neuern
Franzosen, namentlich Fr. Souli" und G. Sand, finden wir ein ähnliches
Wühlen in den geheimen, grandios-unbedeutenden Willkürlichkeiten des weib¬
lichen Herzens; doch ist der empirische Stoff des deutschen Dichters unend¬
lich reicher, wenn auch seiner Darstellung die Wärme des unmittelbaren
Gefühls fehlt. Welche tiefe Wahrheit liegt in der Darstellung der Künstler¬
ehe Albrecht Dürer's, einer Novelle, deren Inhalt ungefähr mit Jean Paul's
Siebenkäs übereinstimmt, nur daß hier der Satan in den Tiefen des weib¬
lichen Herzens wirklich und mit dämonischer Unwiderstehlichkeit sich regt,
während es in Jean Paul nur die Narrheit des phantastischen Poeten ist,
die einen ganz erträglichen Hausstand verkümmert. Ich halte diese Novelle
für eine der rührendsten, wie sehr man auch über den unglückseligen Pan¬
toffelhelden die Achsel zucken mag. -- Die Liebe, wie der Dichter sie schil¬
dert, liegt meist nur in den Illusionen der Phantasie, und dieser Sommer¬
nachtstraum der Brunst hat etwas Unheimliches; ich mache unter andern
auf "Violante Beccaria" und "die Perserin" aufmerksam. Die Sinnlichkeit
wird mehr auempsunden als wirklich erlebt; Schefer ist ein geistiger Anatom,
kein produktiver Künstler. Der Anatom liebt die Mißgeburten, weil sich in
der Anomalie das Gesetz am eigenthümlichsten verfolgen läßt; so legt Schefer
sein Messer auch am Liebsten an anomale Seelenzustände. Ein gefallenes
Mädchen, das bei einem katholischen Fest die Muttergottes darstellen muß,
und im Gefühl dieser Blasphemie stirbt; eine Religieuse, der in der Revolu¬
tion als 0ve88e as la libert"- gepreßt wird und darüber in Wahnsinn fällt;
ein Bauchredner, der seine innere Stimme als einen fremden Geist empfin¬
det; ein Weib, das 30 Jahre lang als Mann gekleidet geht; eine Blinde,
die geheilt wird -- kurz diese Sentimentalität subjectiver Zustände in Er¬
mangelung eines lebendigen, objectiven Interesse. Wenn der Dichter das


„Die Weiber werden von dem Unverständlichen oder Unverstandenen am
Tiefsten ergriffen, und leben und bewegen sich darum so sicher und froh in
der Welt, weil sie ihre Gefühle und Gedanken ganz unbehindert hineinlegen
können und unbeschränkt darinnen verbreiten." „Die Natur wird kaum
wahrer empfunden als in den Weibern. Sie leben lebendig, fühlen die
traumähnlichsten, geheimnißvollsten Zustände klar und deutlich. Sie denken
das Leben weniger als sie es fühlen, und meist ohne Phantasie, versenken
sie sich leicht in die Zauber der Natur, weil sie Zeitlebens mehr Natur sind,
darstellen und bleiben als in beständigem, jungfräulichen, mütterlichem, bis
zur Verkennung verwandtem Verkehr mit ihr in allen entzückenden und
schwersten Stunden des Lebens, der Geburt und des Todes." Wie an¬
schaulich werden die Mysterien des Muttergefühls dargestellt! Bei den neuern
Franzosen, namentlich Fr. Souli« und G. Sand, finden wir ein ähnliches
Wühlen in den geheimen, grandios-unbedeutenden Willkürlichkeiten des weib¬
lichen Herzens; doch ist der empirische Stoff des deutschen Dichters unend¬
lich reicher, wenn auch seiner Darstellung die Wärme des unmittelbaren
Gefühls fehlt. Welche tiefe Wahrheit liegt in der Darstellung der Künstler¬
ehe Albrecht Dürer's, einer Novelle, deren Inhalt ungefähr mit Jean Paul's
Siebenkäs übereinstimmt, nur daß hier der Satan in den Tiefen des weib¬
lichen Herzens wirklich und mit dämonischer Unwiderstehlichkeit sich regt,
während es in Jean Paul nur die Narrheit des phantastischen Poeten ist,
die einen ganz erträglichen Hausstand verkümmert. Ich halte diese Novelle
für eine der rührendsten, wie sehr man auch über den unglückseligen Pan¬
toffelhelden die Achsel zucken mag. — Die Liebe, wie der Dichter sie schil¬
dert, liegt meist nur in den Illusionen der Phantasie, und dieser Sommer¬
nachtstraum der Brunst hat etwas Unheimliches; ich mache unter andern
auf „Violante Beccaria" und „die Perserin" aufmerksam. Die Sinnlichkeit
wird mehr auempsunden als wirklich erlebt; Schefer ist ein geistiger Anatom,
kein produktiver Künstler. Der Anatom liebt die Mißgeburten, weil sich in
der Anomalie das Gesetz am eigenthümlichsten verfolgen läßt; so legt Schefer
sein Messer auch am Liebsten an anomale Seelenzustände. Ein gefallenes
Mädchen, das bei einem katholischen Fest die Muttergottes darstellen muß,
und im Gefühl dieser Blasphemie stirbt; eine Religieuse, der in der Revolu¬
tion als 0ve88e as la libert«- gepreßt wird und darüber in Wahnsinn fällt;
ein Bauchredner, der seine innere Stimme als einen fremden Geist empfin¬
det; ein Weib, das 30 Jahre lang als Mann gekleidet geht; eine Blinde,
die geheilt wird — kurz diese Sentimentalität subjectiver Zustände in Er¬
mangelung eines lebendigen, objectiven Interesse. Wenn der Dichter das


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[0447] „Die Weiber werden von dem Unverständlichen oder Unverstandenen am Tiefsten ergriffen, und leben und bewegen sich darum so sicher und froh in der Welt, weil sie ihre Gefühle und Gedanken ganz unbehindert hineinlegen können und unbeschränkt darinnen verbreiten." „Die Natur wird kaum wahrer empfunden als in den Weibern. Sie leben lebendig, fühlen die traumähnlichsten, geheimnißvollsten Zustände klar und deutlich. Sie denken das Leben weniger als sie es fühlen, und meist ohne Phantasie, versenken sie sich leicht in die Zauber der Natur, weil sie Zeitlebens mehr Natur sind, darstellen und bleiben als in beständigem, jungfräulichen, mütterlichem, bis zur Verkennung verwandtem Verkehr mit ihr in allen entzückenden und schwersten Stunden des Lebens, der Geburt und des Todes." Wie an¬ schaulich werden die Mysterien des Muttergefühls dargestellt! Bei den neuern Franzosen, namentlich Fr. Souli« und G. Sand, finden wir ein ähnliches Wühlen in den geheimen, grandios-unbedeutenden Willkürlichkeiten des weib¬ lichen Herzens; doch ist der empirische Stoff des deutschen Dichters unend¬ lich reicher, wenn auch seiner Darstellung die Wärme des unmittelbaren Gefühls fehlt. Welche tiefe Wahrheit liegt in der Darstellung der Künstler¬ ehe Albrecht Dürer's, einer Novelle, deren Inhalt ungefähr mit Jean Paul's Siebenkäs übereinstimmt, nur daß hier der Satan in den Tiefen des weib¬ lichen Herzens wirklich und mit dämonischer Unwiderstehlichkeit sich regt, während es in Jean Paul nur die Narrheit des phantastischen Poeten ist, die einen ganz erträglichen Hausstand verkümmert. Ich halte diese Novelle für eine der rührendsten, wie sehr man auch über den unglückseligen Pan¬ toffelhelden die Achsel zucken mag. — Die Liebe, wie der Dichter sie schil¬ dert, liegt meist nur in den Illusionen der Phantasie, und dieser Sommer¬ nachtstraum der Brunst hat etwas Unheimliches; ich mache unter andern auf „Violante Beccaria" und „die Perserin" aufmerksam. Die Sinnlichkeit wird mehr auempsunden als wirklich erlebt; Schefer ist ein geistiger Anatom, kein produktiver Künstler. Der Anatom liebt die Mißgeburten, weil sich in der Anomalie das Gesetz am eigenthümlichsten verfolgen läßt; so legt Schefer sein Messer auch am Liebsten an anomale Seelenzustände. Ein gefallenes Mädchen, das bei einem katholischen Fest die Muttergottes darstellen muß, und im Gefühl dieser Blasphemie stirbt; eine Religieuse, der in der Revolu¬ tion als 0ve88e as la libert«- gepreßt wird und darüber in Wahnsinn fällt; ein Bauchredner, der seine innere Stimme als einen fremden Geist empfin¬ det; ein Weib, das 30 Jahre lang als Mann gekleidet geht; eine Blinde, die geheilt wird — kurz diese Sentimentalität subjectiver Zustände in Er¬ mangelung eines lebendigen, objectiven Interesse. Wenn der Dichter das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/447>, abgerufen am 25.08.2024.